Mit "Ingress" unterwegs in zwei Welten
19. Dezember 2013Sie stehen vor Brunnen, Statuen oder an Haltestellen. Ihre Augen sind fest auf das Display ihres Mobiltelefons gerichtet. Es dauert Minuten, manchmal bis zu einer Stunde, bis sie ihre Position verlassen und zielstrebig den nächsten Punkt ansteuern.
Sie spielen Ingress, ein sogenanntes Augmented Reality-Spiel: Der Spieler bewegt sich durch die "echte" Welt, das Handy begleitet ihn virtuell und gibt die Aufgaben vor.
Die Story ist einfach: Zwei Mannschaften kämpfen um Gebiete. Und zwar weltweit. Ziel ist es, die komplette Welt zu erobern. Dazu brauchen sie Portale. Das sind meistens Sehenswürdigkeiten oder andere markante Punkte, meist in Großstädten, aber auch auf dem Land. Die Spieler müssen um die Portale kämpfen, indem sie sich mit ihren Smartphones dort einhacken. Dazu brauchen sie virtuelle Energie, die aber nur mit echter Bewegung zu finden ist. So laufen die Spieler mit ihren Handys in der Hand durch ganze Stadtviertel, um in einer bestimmten Zeit so viele Energiepunkte wie möglich einzusammeln.
Eine sportliche Angelegenheit
Im November 2012 brachte das Google-interne Start-up "Niantic Labs" Ingress heraus und hatte innerhalb von sechs Monaten rund 500.000 Spieler weltweit.
Es ist kein Zufall, dass einem das Spielfeld von Ingress bekannt vorkommt. Der Erfinder dieser App, John Hanke, arbeitete früher am Kartendienst Google Maps und der Software Google Earth. "Ich habe versucht, ein Game zu machen, das die Leute nach draußen und die Kids von der Couch wegbringt", sagte Hanke dem Technologiemagazin "futurezone". Er nennt es "eine Mischung aus Geocaching und Science Fiction ohne gigantische Aliens".
Um den höchsten Level zu erreichen, sprich die meisten Portale einzunehmen, müssen in Großstädten – Berlin etwa besitzt gut 1000 Portale - bis zu 100 Kilometer zurückgelegt werden, zu Fuß oder mit dem Fahrrad. In ländlichen Gebieten wird es noch sportlicher, denn hier ist die Portaldichte geringer.
Wer Ingress einmal ausprobiert, kommt so schnell nicht wieder davon los. "Andere gehen mit ihrem Hund spazieren, ich mit meinem Smartphone", erklärt Manfred Krejcik, der in Wien vor mehreren Monaten den höchsten Level erreichte. Und nebenbei mal eben zehn Kilo abgenommen hat. "Mir hilft das Spiel nicht nur beim Abnehmen, ich habe dadurch viele interessante Menschen kennengelernt."
Ingress bringt Menschen zusammen
Ohne die Community läuft bei Ingress gar nichts. Die Spieler helfen sich gegenseitig, sowohl virtuell oder auch in der parallelen, realen Welt, und sei es nur, um irgendwo ein leer gewordenes Handyakku wieder aufzuladen. Es gibt viele Treffen, die die Spieler privat veranstalten.
Hier werden Erfahrungen ausgetauscht und Allianzen geschmiedet. Wenn ein erfahrener Spieler einem Anfänger hilft, kann dieser schneller Punkte sammeln und in der Hierarchie aufsteigen. In manchen Situationen ist es auch erforderlich, dass sich Spieler, die auf dem gleichen Level sind, zusammentun. Anfangs waren bei solchen Treffen vor allem Mitarbeiter aus der IT-Branche zugegen, die App zieht aber zunehmend weitere Kreise.
Datenschutz ist ein Problem
Wer mitspielt, nimmt in Kauf, dass er sich damit gläsern macht. Alle Spieler sind für Google bis auf wenige Meter lokalisierbar. Ein Grauen für jeden Datenschützer. Für Google nicht: Ingress-Spieler brauchen ein Google-Konto und stimmen damit automatisch den Nutzungsbestimmungen von Google zu.
So lernt Google seinen neuen Ingress-spieler schnell "kennen" – sprich: beim Spielen hinterlässt der Nutzer so viele Bewegungsdaten, dass es für Leute, die gezielt solche Informationen suchen, kein Problem ist, dessen Wohnort zu erfahren oder welchen Weg er zur Arbeit nimmt. Tatsächlich passiert es immer wieder, dass mit Hilfe von illegalen Programmen andere Spieler oder Teams ausspioniert werden.
Auf das Problem angesprochen, betont die Product Marketing Managerin Anne Beuttenmüller, dass man Ingress schlichtweg nicht ohne GPS-Daten spielen kann. Google verbiete es allerdings, diese Programme einzusetzen: "Wer gegen die Nutzungsbedingungen verstößt", so Anne Beuttenmüller, "muss mit einer Schließung des eigenen Spielerkontos rechnen." Das schreckt die Nutzer der unerlaubten Software allerdings nicht ab.
Wie will Google damit Geld verdienen?
Bisher läuft das Spiel nur auf Android-Geräten. Aber: die App ist bislang umsonst – und soll ab 2014 auch für IOS-Geräte zu haben sein. Wie Google die Kosten für Betrieb und Entwicklung wieder hereinholen will, darüber hält sich der Konzern bedeckt. Allerdings gibt es bereits gesponserte Portale; der Mobilfunkabieter Vodafone etwa hat einige seiner Shops direkt zu Ingress-Portalen gemacht.
Natürlich wird heftig darüber spekuliert, ob Ingress nicht doch das bisher mäßige Interesse für Google Glass ankurbeln könnte. Die Datenbrille läuft auch auf Basis des Betriebssystems Android. Google Glass wäre für ein solches Spiel wie geschaffen. Doch die Brille ist erstens noch nicht weit genug entwickelt und zweitens noch viel zu selten.
Ungeachtet der Kritik ist das Spiel ein Renner geworden. Wenn die IOS-Version fertig ist, wird Google viele Tausend iPhone-Nutzer dazu gewinnen. Seit Ende Oktober kann jeder mitmachen – vorher ging das nur auf Einladung bereits aktiver Spieler. Zum Einjährigen lassen die Ingress-Entwickler am 16.11. die Korken knallen. Geplant sind Events in vielen europäischen Großstädten.
Google wird ja gerne nachgesagt, es wolle die "Weltherrschaft" übernehmen. Mit Ingress hat die Google-Tochter Niantic schon mal einen ersten Schritt getan. Denn in diesem Spiel geht es um nichts anderes als die Kontrolle über den ganzen Erdball. Ob der Gewinner letztendlich Gutes oder Böses im Schilde führt, das ist weder bei Ingress noch in der Wirklichkeit zu erkennen.