Mit dem Tablet durchs KZ
5. Mai 2016Deutsche Welle: Eine Gedenkstätte stellt man sich vor als Ort der Erinnerung, Einkehr und Stille. Ist es nicht ein Widerspruch, Besuchern einen Tablet-Computer mit einer 3D-Animation des ehemaligen Konzentrationslagers in die Hand zu geben?
Stephanie Billib: Wir hatten diese Bedenken zunächst auch, obwohl die Idee von einem Enkel eines hier verstorbenen Häftlings stammt: Der Niederländer Paul Verschure stellte bei einem Besuch verwundert fest, wie wenig nur noch von den Gebäuden des Lagers zu sehen ist. Erst als uns klar wurde, dass es hier nicht um eine Darstellung im Stile von Videospielen oder Walt Disney geht, haben wir uns der Idee geöffnet und sie ausprobiert.
Wie haben Opfer oder deren Nachkommen reagiert?
Wir haben Vertreter der Überlebenden-Verbände die 3D-Darstellung aus der App erstmals 2012 im Rahmen des 60. Jubiläums der Gedenkstätte als Video-Installation präsentiert. Damals war ich erstaunt, wie angetan die Überlebenden davon waren. Skeptischer war eher die zweite Generation. Die Überlebenden selbst sehen darin eine Möglichkeit, auch dann noch die Geschichte des Lagers zu erzählen, wenn sie es selbst nicht mehr können.
Wie reagieren die Besucher auf das Angebot?
Sie nehmen es gerne in Anspruch, insbesondere Schülergruppen. Aber auch Einzelbesucher jeden Alters leihen sich die Tablets mit der App aus und erforschen damit die Gedenkstätte. Wenn sie die Geräte zurückbringen, bitten wir sie, ein paar Fragen zu ihren Erfahrungen zu beantworten. Rückmeldungen, die uns dazu veranlasst hätten, das Projekt in Frage zu stellen, gab es bisher nicht. Die Reaktionen sind meist sehr positiv. Viele geben an, dass sie sich mehr Infos, mehr Details oder eine realistischere Darstellung der Gebäude wünschen. Die Gebäude werden ja nur als Flächen in verschiedenen Grautönen angezeigt.
Können Sie auf diese Wünsche eingehen?
Teilweise schon. Aber es gibt Grenzen: Technisch wäre es einfach, Mauerwerk oder Holzstrukturen darzustellen, damit die Gebäude realistischer wirken. Aber Historiker wenden ein, dass wir gar nicht genau wissen, wie die einzelnen Gebäude aussahen. Wir wollen aber nur gesicherte Fakten dokumentieren und keine Eindrücke vermitteln, die nicht belegbar sind.
Auf welchen Dokumenten basiert die App überhaupt?
Das maßgebliche Dokument über den Aufbau des KZs ist ein Foto der britischen Luftwaffe, das bei einem Überflug am 13. September 1944 aufgenommen wurde. Daneben gibt es Fotos von der Befreiung am 15. April 1945. Derzeit recherchieren wir weitere Informationen, um eventuell zu zeigen, wie das Lager zu früheren Zeitpunkten ausgesehen hat.
Hat Ihr Beispiel Schule gemacht?
So weit ich weiß, nicht in dieser Form. Was es in anderen Gedenkstätten gibt, sind Apps, die wie eine Führung funktionieren. Unsere App dagegen sieht keine Reihenfolge vor. Sie gibt lediglich Informationen über die einzelnen Orte.
Welchen Vorteil hat das?
Auch das ist eine Idee von Paul Verschure. Er ist Psychologe und leitet in Barcelona ein interdisziplinäres Team von Hirnforschern. Der Ansatz beruht auf der Erkenntnis, dass der Lerneffekt größer und nachhaltiger ist, wenn man Dinge selbst herausfindet. Deshalb fordern wir die Besucher in Bergen-Belsen explizit auf, das Gelände auf eigene Faust zu erkunden und sich ganz frei zu bewegen. Feste Wege gibt es ohnehin nicht. Wenn sie dann Fragen haben, bekommen sie über die App Antworten.
Haben Sie das Gefühl, dass das funktioniert?
Unbedingt - vor allem bei Schulklassen. Für Studientage bieten wir ein Programmelement an, bei dem zwei oder drei Schüler gemeinsam mit einem Tablet losziehen, um die Gedenkstätte für sich zu entdecken. Nach etwa einer Stunde sollen sie dann der Gruppe ein Objekt oder Dokument vorstellen, das sie besonders beeindruckt hat. Der Effekt ist, dass die Schüler nicht einfach eine Aufgabe erledigen und abhaken, sondern sich eigene Gedanken zu dem machen, was hier geschehen ist. Die Gruppenleiter berichten regelmäßig, dass das vervorragend funktioniert.
Die Fragen stellte Jan D. Walter
Stephanie Billib ist Pressesprecherin der Gedenkstätte Bergen-Belsen und leitet das digitale Projekt der Einrichtung.