"Putins Macht wird bröckeln"
19. Juni 2017Es war eine Premiere nicht nur für das Global Media Forum (GMF), das am Montag begonnen hat, sondern auch für Bonn. Michail Chodorkowski kam zum ersten Mal in die Stadt am Rhein, um an der diesjährigen Konferenz der Deutschen Welle teilzunehmen. Bei einem Gespräch im gut gefüllten ehemaligen Plenarsaal des Deutschen Bundestages ging es um weit mehr als das angekündigte Thema "Zivilgesellschaft und Medien". Der Kremlkritiker und ehemalige Ölmilliardär sprach über das, was ihn antreibt, über notwendige politische Reformen in Russland, mediale Erfolge des Kremls und über die aus seiner Sicht bald schwindende Macht des Präsidenten Wladimir Putin.
"Ich bin immer noch Michail Chodorkowski und hoffe, es zu bleiben", sagte der 53-Jährige mit sanfter Stimme zu Beginn auf die Frage, wie Russlands oder gar Wladimir Putins früherer "prominentester Häftling" sich selbst sieht. Es war einer der wenigen Momente während des halbstündigen Gesprächs, in denen er lächelte.
"Auf Russland stolz sein"
Chodorkowski galt einst als reichster Mann Russlands, bevor er 2003 verhaftet und später wegen Wirtschaftsverbrechen zweimal verurteilt wurde. Er sieht sich als Opfer der russischen Justiz. Insgesamt rund zehn Jahre verbrachte er hinter Gittern, bis er 2013 überraschend freikam. Seitdem lebt Chodorkowski im Westen und unterstützt seine Bewegung "Offenes Russland". Nach dem Gefängnis habe er das Interesse an Geschäften verloren. "Zusammen mit meinen Kollegen versuche ich, meinem Land zu helfen, auf den demokratischen Weg zurückzufinden", so beschreibt der Ex-Milliardär seine Aufgabe als Oppositioneller heute. Selbst Präsident zu werden, sei nicht sein Ziel.
Was ihn antreibe, wollte Moderator Ingo Mannteufel, Leiter der DW-Hauptabteilung Russland, Ukraine und Türkei, wissen - Patriotismus oder Rache? Früher hätte er Patriotismus gesagt, antwortete Chodorkowski, doch dieses Wort habe im heutigen Russland seine ursprüngliche Bedeutung verloren. "Ich möchte, dass man auf Russland stolz sein kann." Dafür brauche das Land Veränderungen.
Systemwechsel in zwei Schritten
Ein Wort wiederholte Chodorkowski beim GMF in Bonn immer wieder: Systemwechsel. Das heutige Machtsystem in Russland sei "autoritär". Um demokratischer zu werden, brauche es einen Wechsel von einer präsidialen zu einer parlamentarischen Demokratie. Dieser Übergang werde wohl in zwei Schritten erfolgen: zunächst zu einem präsidial-parlamentarischen, dann zu einem parlamentarischen System, so Chodorkowski. Auch eine starke Regierung und unabhängige Justiz seien notwendig.
Der politische Wechsel solle "möglichst sanft" ablaufen und von oben, also von der Kremlführung, kommen. Der jetzige Präsident Putin solle nicht mehr bei der kommenden Wahl 2018 antreten und stattdessen einen Nachfolger bestimmen, der dann notwendige politische Reformen durchsetzen würde. "Das ist mein Phantasiebild", schränkte Chodorkowski ein. Seine zweite Wunschvorstellung wäre, dass Putin nach einem Sieg 2018 mitten in der inzwischen vierten Amtszeit als Präsident abtreten und an einen Nachfolger übergeben würde. Doch auch das sei eine "Phantasie". Für realistisch hält der Kremlkritiker offenbar einen gewaltsamen Machtwechsel von unten, mit Straßenprotesten, auch wenn er das nicht so deutlich formulierte.
Putin ist nicht Russland
Seine wichtigste Aufgabe sieht Chodorkowski darin, den Russen zu zeigen, dass es andere Optionen als Putin geben kann. Die staatlich gelenkten russischen Medien seien "sehr effektiv" darin, Putin als alternativlos darzustellen. Darum begrüßte Chodorkowski die jüngsten Proteste gegen Korruption in ganz Russland, die der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny organisiert hat. Den Namen des vergangene Woche erneut inhaftierten Nawalny erwähnte er jedoch nicht.
Putins Macht werde in den kommenden Jahren bröckeln, prophezeite Chodorkowski: "Es wird ein Loyalitätsproblem geben. Putin ist nicht mehr der Jüngste. Er kann dem jetzigen Staatsapparat nicht garantieren, dass er bis zum Lebensende das Dach dieses Apparats sein wird." Das "Dach" (Kryscha) wird in Russland umgangssprachlich eine politische oder wirtschaftliche Schutzmacht genannt. Dieser Staatsapparat werde in kommenden Jahren nach einer Alternative suchen, glaubt Chodorkowski. "Der Countdown zu Veränderungen, die dann viel härter ausfallen dürften, hat schon begonnen."
Zum Schluss appellierte der Kremlkritiker an das Publikum, Russland nicht mit Putin gleichzusetzen: "Ich hoffe sehr, dass unsere Freunde im Westen zwischen dem Kreml und Russland, zwischen Putin und dem russischen Volk unterscheiden."