"Migration muss Zweibahnstraße werden"
28. Oktober 2020Auf einer Online-Konferenz, die von der deutschen Südosteuropa-Gesellschaft und dem Aspen-Institut Deutschland vom 28. bis zum 30. Oktober 2020 im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft veranstaltet wird, geht es unter anderem um Zuwanderung von Arbeitskräften vom Westbalkan nach Deutschland - und um die Frage, wie besonders junge Menschen aus Albanien, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien, Montenegro, Kosovo und Serbien dazu bewogen werden können, in ihren Heimatländern zu bleiben.
Die DW hat den für Europa zuständigen deutschen Staatsminister Michael Roth vorab gefragt, wie das gelingen kann.
DW: Herr Roth, einerseits braucht Deutschland Arbeitskräfte, andererseits sollen besonders junge Menschen aus den Westbalkanstaaten dort bleiben, um ihre Länder aufzubauen. Wie lösen Sie diesen Widerspruch auf?
Michael Roth: Uns geht es darum, dass junge Menschen in ganz Europa Chancen sowohl in ihrem Heimatland als auch anderswo auf dem Kontinent nutzen können. Gleichzeitig ist es nicht gut für ein Land, wenn zu viele junge Menschen die Koffer packen. Denn dann fehlt es an Fachkräften, Innovationskraft und gesellschaftlicher Dynamik.
Auch deshalb befürwortet die Bundesregierung die EU-Perspektive der Länder des Westlichen Balkans so ausdrücklich. Reformen machen diese Staaten für Investitionen und die Integration in den EU-Wirtschaftskreislauf attraktiver. Das bedeutet mehr Wohlstand für die Bevölkerung und spürbar bessere Perspektiven für junge Menschen.
Auch Ausbildung und Qualifizierung sind ein Schlüssel, um die Länder weiter nach vorne zu bringen. Wir engagieren uns zum Beispiel auf dem Westlichen Balkan mit der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ unter anderem im Bereich duale Ausbildung. Wir wollen durch Bildungschancen und Arbeitserfahrungen bei uns dazu beitragen, dass hervorragend qualifizierte Menschen in die Länder zurückkommen können. Migration ist bislang eine Einbahnstraße, muss aber eine Zweibahnstraße werden.
Was bietet Deutschland jungen Menschen vom Westbalkan an, damit sie in ihren Ländern bleiben?
Es geht wirklich nicht darum, dass junge Menschen nicht mehr zu uns kommen sollen. Wir wollen für die Staaten des Westlichen Balkans einen festen Platz in der EU. In der EU ist Freizügigkeit ein ganz zentraler Wert.
Aber wie gesagt, wir möchten, dass die jungen Menschen frei sind in ihrer Wahl, sich also nicht gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen. Hierfür braucht es Perspektiven vor Ort. Wir unterstützen deshalb die Region sehr umfassend in ihrer Entwicklung, vor allem über die EU, aber auch bilateral.
Im Frühjahr haben wir auf dem EU-Westbalkangipfel in Zagreb 3,3 Milliarden Euro für den Westlichen Balkan zur Bekämpfung von COVID und der Folgen der Pandemie bereitgestellt. Ergänzend hat die EU-Kommission Anfang Oktober ein Wirtschafts- und Investitionspaket in Höhe von 9 Milliarden Euro vorgestellt, dass die Wirtschaft auf dem Westlichen Balkan modernisieren soll.
Zusätzlich unterstützt Deutschland die Länder sehr aktiv bilateral mit Maßnahmen z.B. im Umwelt-, Klima- Rechtsstaatsbereich oder bei dualer Bildung. Aber auch die Versöhnung und die Stärkung offener, vielfältiger, liberaler Gesellschaften sind zentrale Aufgaben, die wir fördern.
Was fordert Deutschland von den Regierungen der Westbalkanstaaten, was sollen sie tun, um ihrer Jugend eine Perspektive in ihren Ländern zu geben?
Die Erweiterungspolitik der EU-Kommission ist sehr klar: die Staaten des Westbalkans müssen strenge Kriterien erfüllen. Der Leitgedanke lautet: We deliver, you deliver! Das heißt, die EU ist bereit, die Region in ihren Kreis aufzunehmen und unterstützt den Weg dahin mit Ideen, Projekten, Expertise und viel Geld.
Aber im Gegenzug erwarten wir echte Reformen. Hier ist noch deutlich Luft nach oben beim Reformtempo in den Bereichen, die ich gerade nannte. Viele junge Menschen auf dem Westlichen Balkan sagen, dass mangelnde Chancen wegen korrupter Institutionen, eines Klimas der Intoleranz und schwacher Rechtsstaatlichkeit ein Hauptgrund für die Emigration seien.
Klare Fortschritte bei der Rechtsstaatlichkeit und dem Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität würden viele von ihnen motivieren, sich eine Zukunft im eigenen Land aufzubauen. Und dieselben Reformen würden einen wirtschaftlichen Aufschwung mit sich bringen. Wir wünschen uns offene, dynamische und inklusive Gesellschaften.
Michael Roth ist langjähriger Parlamentarier der SPD im Bundestag und seit 2013 Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt.