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"Verschwörungstheorien sind nicht neu"

Felix Schlagwein
19. Mai 2020

Verschwörungstheorien gab es schon im alten Rom. In der Corona-Krise haben sie wieder Hochkonjunktur. Im DW-Interview erklärt Experte Michael Butter, warum sie so populär sind und dass nicht von allen Gefahr ausgeht.

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US-Astronaut Edwin "Buzz" Aldrin auf dem Mond
Einige Verschwörungstheoretiker hielten die Mondlandung für eine spektakuläre Inszenierung der US-Regierung Bild: picture-alliance/dpa/NASA/N. Armstrong

DW: In der Corona-Krise verbreiten sich immer mehr Verschwörungstheorien. Das Phänomen an sich ist allerdings nicht neu. Seit wann glauben Menschen an Verschwörungstheorien?

Michael Butter: Tatsächlich glaube ich nicht, dass Verschwörungstheorien durch die Corona-Krise einen unglaublichen Aufschwung erfahren haben, man nimmt sie nur stärker wahr. Auch sind die Corona-Verschwörungstheorien im Grunde nicht neu. Sie sind nur das letzte Kapitel, das neueste Element in einem viel länger andauernden Narrativ. Deshalb kamen sie auch so schnell auf, weil einfach an bestehende Theorien angebaut wurde.

Die Frage, seit wann Menschen an Verschwörungstheorien glauben, ist in der Forschung noch nicht abschließend geklärt und hängt vor allem davon ab, wie man Verschwörungstheorien definiert. Lange ging man davon aus, dass es sie zu jeder Zeit und in jeder Kultur gegeben hat, also immer und überall. Mittlerweile sind die meisten Forschenden allerdings der Ansicht, dass sie ein Produkt der europäischen Geschichte der Frühen Neuzeit sind. Dort treten zum ersten Mal Verschwörungstheorien auf, wie wir sie heute noch kennen. Es gibt wichtige Vorläufer in der römischen und griechischen Antike, dann sind sie lange Zeit weg und kommen im Zeitalter der Konfessionskriege wieder auf.Woran lag das?

Gaius Julius Caesar (102 - 44 v.Chr.)
Schon in der Antike gab es Verschwörungstheorien - Julius Caesar allerdings wurde Opfer einer echten Verschwörung Bild: Hulton Archive/Getty Images

Das hat damit zu tun, dass erst dann die Bedingungen gegeben waren, die man für Verschwörungstheorien braucht. Man braucht eine lesende Öffentlichkeit, in der Texte auch anonym zirkulieren können, dafür brauchte man den Buchdruck. Man brauchte aber vor allem eine bestimmte Vorstellung von Geschichte und dem Einfluss von Menschen auf Geschichte. Dazu war eine bestimmte Wahrnehmung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft notwendig.

In welchen Kreisen kursierten diese Theorien besonders?

Verschwörungstheorien waren lange Zeit absolut im Mainstream verankert - von der Antike über die Frühe Neuzeit bis weit ins 20. Jahrhundert. Für das 17. und 18. Jahrhundert ist das ziemlich gut erforscht. Das mechanistische Bild der Aufklärung von Ursache und Wirkung führte zu Verschwörungstheorien. Man ging davon aus, dass hinter jeder Handlung eine Absicht steckt und man konnte sich nicht vorstellen, dass auch unbeabsichtigte Dinge passieren können. In der Antike ist es so, dass wir in den Reden der großen Politiker Verschwörungstheorien nachweisen können. Die kursierten garantiert auch in den Alltagsgesprächen der Menschen, aber davon haben wir leider keine Zeugnisse.  

Das Internet hat die Ausbreitung von Verschwörungstheorien rasant beschleunigt. Glauben heute mehr Menschen an Verschwörungstheorien als damals?

In den USA glaubt, je nach Umfrage, jeder Zweite an mindestens eine Verschwörungstheorie. Wenn man die verschiedenen Studien in Deutschland vergleicht, würde ich davon ausgehen, dass rund ein Viertel bis maximal ein Drittel der Deutschen wirklich empfänglich ist für Verschwörungstheorien. Früher hätte das sicherlich ganz anders ausgesehen. Wenn wir Umfragen von vor 150 oder 200 Jahren aus Deutschland, Großbritannien und den USA hätten, wären wir sicherlich bei weit über 90 Prozent, weil es damals einfach normal war. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat ein Stigmatisierungsprozess eingesetzt, durch den Verschwörungstheorien aus der Mitte der Gesellschaft an den Rand gewandert sind. In Osteuropa und der arabischen Welt hat dieser Prozess in dem Maße nicht stattgefunden. Dort sind Verschwörungstheorien noch weit verbreitet.

Michael Butter - Professor für amerikanische Literatur und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen
Professor Michael Butter forscht über VerschwörungstheorienBild: Privat

Inwiefern unterscheiden sich die historischen Verschwörungstheorien von den heutigen?

Sie haben viel gemeinsam, vor allem in der Art und Weise, wie argumentiert wird. Es geht immer um Ableitung. Man beobachtet irgendetwas, dann überlegt man sich: Wem nutzt das - cui bono -, dann identifiziert man die Schuldigen und stellt so eine Indizienkette her. Man teilt immer die Welt in Gut und Böse auf, in die Verschwörer und die Opfer der Verschwörung. Ein Unterschied ist sicherlich die Reichweite. Selbst Cicero konnte sich nur eine Verschwörung gegen Rom vorstellen, heutzutage haben wir es mit globalen Verschwörungstheorien zu tun. So wird gerade beispielsweise Bill Gates vorgeworfen, dass er durch seine Stiftung das Impfen in über 150 Ländern weltweit kontrolliert.

In der Geschichte hat es unzählige Verschwörungen gegeben – man denke zum Beispiel an die Ermordung Cäsars oder das Attentat auf Adolf Hitler am 22. Juli 1944. Worin liegt der Unterschied zwischen diese realen Verschwörungen und Verschwörungstheorien?

Verschwörungen hat es immer gegeben und wird es auch immer geben. Wenn wir von Verschwörungstheorien sprechen, heißt das nicht, dass wir leugnen, dass es echte Verschwörungen gibt. Aber es gibt Unterschiede. An realen Verschwörungen sind meist deutlich weniger Leute beteiligt als an dem, was Verschwörungstheorien imaginieren. Die Verschwörung gegen Julius Cäsar 44 v. Chr. war da schon eine recht große Sache, weil an diesem Mordkomplott mehrere Dutzend Senatoren beteiligt waren. An den Verschwörungstheorien der Gegenwart, wie 9/11, der Mondlandung oder auch Corona müssten aber Tausende, wenn nicht Hunderttausende Menschen zumindest unwissentlich beteiligt gewesen sein, die dann spätestens im Nachhinein feststellen würden, dass man sie missbraucht hat. Eine solche Verschwörung geheim zu halten, ist unmöglich. Außerdem sind reale Verschwörungen oft nur kurz- oder mittelfristig erfolgreich. Es läuft also für die Verschwörer nicht nach Plan wie in den Verschwörungstheorien. Nochmal das Beispiel Cäsar: Das Ziel der Verschwörung war einerseits, ihn zu töten - das war erfolgreich. Gleichzeitig ging es den Verschwörern darum, durch den Mord die Staatsform der Republik zu bewahren. Doch auf die Verschwörung folgte ein Bürgerkrieg, an dessen Ende sich Octavian zum Kaiser erhob. Damit war die Römische Republik, die über Jahrhunderte existiert hatte, Geschichte.  

Wir sehen heute, dass Verschwörungstheorien politisch instrumentalisiert werden. In Ungarn ist die Verschwörungstheorie um den Milliardär George Soros Staatsräson. Auch US-Präsident Donald Trump spielt immer wieder mit Verschwörungstheorien. Ist das eine neue Entwicklung?

Früher war es sogar noch viel ausgeprägter, weil es eher ein Elitendiskurs war - in dem Sinne, als dass Verschwörungstheorien lange Zeit von den Mächtigen als normal angesehen und verbreitet wurden. Dementsprechend richteten sie sich damals meist gegen Außenseiter und Schwache, anders als heute, wo sie sich meistens gegen Eliten richten. Letztendlich ist ein Unterschied, dass die Menschen damals diese Theorien wirklich geglaubt haben. Heutzutage ist es oft schwer zu sehen, ob Politiker wirklich daran glauben oder nicht. Normalerweise verbreiten Verschwörungstheoretiker ihre Theorien, weil sie davon überzeugt sind, der Welt einen Dienst zu erweisen. Sie glauben, der Wahrheit auf die Spur gekommen zu sein und nun etwas Gutes zu tun, indem sie diese enthüllen. Das heißt aber nicht, dass Menschen Verschwörungstheorien nicht auch zynisch verbreiten, sei es aus ökonomischen Motiven, also um damit Geld zu machen, oder aus politischem Kalkül.    

Demonstrant mit Maske "Gib Gates kein" Chance"
Viele Demonstranten beschuldigen Bill Gates, an der Corona-Krise schuld zu sein Bild: AFP/T. Schwarz

Schon im Mittelalter führten Verschwörungstheorien zu Gewalt, vor allem gegen Juden. Bei den aktuellen Protesten wurden mehrfach Journalisten angegriffen, und auch rechtsextreme Terroristen berufen sich immer wieder auf Verschwörungstheorien. Wie gefährlich sind Verschwörungstheoretiker?

Da darf man nicht pauschalisieren. Es gibt harmlose Verschwörungstheorien. Ich kenne niemanden, der wegen der Mondlandung oder 9/11 losgegangen wäre und eine Gewalttat begangen hätte. Verschwörungstheorien können aber tatsächlich ein Motor für politische Radikalisierung sein und deshalb zu Gewaltbereitschaft und tatsächlicher Gewalt führen. Dafür gibt es historische Beispiele. Wir haben es aber auch in Christchurch und Halle gesehen. Menschen fühlen sich berufen, in diesen Konflikt einzugreifen, den sie glauben entdeckt zu haben. Es ist allerdings sehr schwierig, die herauszufinden, die vom Reden zum Tun übergehen. Da hat die Wissenschaft noch keine klaren Kriterien gefunden, und wahrscheinlich wird sie die auch nie wirklich finden können.

Gefährlich sind auch die medizinischen Verschwörungstheorien wie in der aktuellen Corona-Krise, weil die Leute, die daran glauben, dazu neigen, sich und andere nicht ausreichend zu schützen.   

Michael Butter ist Professor für amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen. Er hat intensiv zum Thema Verschwörungstheorien geforscht und zählt zu Deutschlands führenden Experten auf diesem Gebiet. Butter ist zudem Koordinator des Projekts "Comparative Analysis of Conspiracy Theories" (COMPACT), in dem sich insgesamt 160 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 40 Ländern mit Verschwörungstheorien auseinandersetzen. Kürzlich veröffentlichte das Projekt einen "Leitfaden Verschwörungstheorien".

Das Gespräch führte Felix Schlagwein.