MIAGI: eine Frage des Temperaments
3. Juli 2014Die Berliner Philharmonie bietet dem MIAGI-Jugendorchester die optimale Kulisse: ein in alle Richtungen offenes Konzerthaus, die Musiker im großen, freundlichen Saal bis unters Dach umringt vom Publikum auf den Rängen. Freiheit liegt in der Luft. 75 junge südafrikanische Musiker feiern beim Young Euro Classic-Festival das Ende der Apartheid vor 20 Jahren - mit einem ungewöhnlich vielfältigen Musikprogramm.
Europäische und amerikanische Klänge treffen auf afrikanische Rhythmen und Harmonien. Zu Beginn zeigen die Musiker ihr klassisches Handwerk, zielen auf Finesse in der Melodieführung und Perfektion im Zusammenspiel: Die "Suite für Jazzorchester Nr. 2" von Dmitri Schostakowitsch knüpft an die Jugend des Komponisten als Stummfilmpianist an. Mit Walzer-, Polka- und Marschzitaten zieht er die Musik vom Kaffeehaus ins Tingeltangel-Kabarett.
Es folgt die "Celebration Suite" des schwedischen Komponisten Anders Paulsson - eine Hommage an den Freiheitskampf der Anti-Apartheid-Bewegung. Afrikanisches Volkslied trifft auf Jazz-Riffs. Protestlied verbindet sich mit feierlicher Musik. Der 52-jährige Komponist steht mit seinem Sopransaxophon vor den auf der Stuhlkante sitzenden Musikern und spielt seine in die Partitur eingearbeiteten Soli. Beseelt. Brillant. Beglückend.
Musik als Investment
Die südafrikanische Ausbildungsorganisation MIAGI - "Music Is A Great Investment" - und das MIAGI-Jugendorchester wurden 2001 vom südafrikanischen Tenor Robert Brooks und der finnischen Pianistin Ingrid Hedlund gegründet. Jugendliche und junge Erwachsene aus allen gesellschaftlichen Schichten und Regionen Südafrikas kommen hier nach Probespielen im ganzen Land zusammen, aus den Townships ebenso wie aus den nobleren Gegenden. Unter Anleitung international erfolgreicher Musiker wie dem deutschen Dirigenten Ingo Metzmacher oder dem russischen Geiger Maxim Vengerov können sie auf Probenreisen Orchestermusik erarbeiten. So formen Xhosas, Zulus, Tswanas, Tsongas, Vendas, Ndebele und Afrikaner sowie Jugendliche indischer, malaysischer, chinesischer, britischer und französischer Herkunft ein multiethnisches Orchester, das weltweit seinesgleichen sucht und seine überbordende Lebendigkeit aus eben dieser sozialen Vielfalt zieht.
Aus den Townships zu den Schlossfestspielen
"Natürlich teilt man immer etwas, wenn man mit Anderen musiziert", sagt Robert Brooks der Deutschen Welle. "Aber bei uns geht das noch weiter: Die jungen Musiker im MIAGI-Jugendorchester kommen aus ihrer alltäglichen Umgebung - den Townships - heraus. Sie reisen nach Kapstadt. Jetzt sind sie in Berlin. Und nun fahren wir weiter nach Schweden, dann zum Schleswig-Holstein Musikfestival nach Hamburg, zu den Ludwigsburger Schlossfestspielen und zum Concertgebouw Amsterdam."
Die jungen Südafrikaner bringen ihre eigene Musikkultur mit in die klassische Musikausbildung hinein. Und Robert Brooks kennt die Geschichte jedes einzelnen Orchestermitglieds: "Die da drüben ist Lehrerin. Und der? Der ist einer der wenigen Profimusiker. Die meisten würden ihr Geld gerne mit Musik verdienen, aber für die meisten ist es eben nur ein Nebenjob." Bei den großen Herausforderungen, die jahrzehntelange Apartheidpolitik der Regenbogennation Südafrika aufgebürdet hat, steht die Schaffung von Arbeitsplätzen für klassische Musiker nicht auf der Prioritätsliste.
Vitalität und Vielfalt
Doch das tut der Vitalität des MIAGI-Jugendorchesters keinen Abbruch. Durch die Förderung emotionalen und intellektuellen Wachstums hilft Musik jungen Menschen dabei, ihre Fähigkeiten auf allen Gebieten auszubauen. Tshepo Tsotetsi war selbst lange im Orchester, hat dann die "New Skool" gegründet - ein Experimentalensemble, das Englisch und Afrikaans in seinem Namen und alle musikalischen Genres im Programm verbindet. Der Klarinettist und Komponist tritt ans Pult der Berliner Philharmonie. Und sofort ist seine enge Verbindung zu den jungen Musikern zu spüren: Aus einer harmonischen Gruppe macht er eine Stimme. Aus einer vielschichtigen Musiktradition zaubert er moderne, neue Klänge. Von innen bricht sein MIAGI-"Ableger" den Musikbetrieb auf.
"Jetzt zeigen wir euch, wie Südafrikaner einen Abgang machen", ruft Tshepo Tsotetsi am Ende des Konzerts in die Berliner Philharmonie. Sein Taktstock gibt den Groove für die Bläser vor. Und dann ist kein Halten mehr: Die Schranken zwischen Klassik, Jazz, Folklore und Afro-Pop, zwischen Tradition und Moderne sind längst gefallen. Die Streicher gehen voran ins Foyer. Andere Musiker folgen, greifen Themen auf. Mit Leib und Seele wird frei musiziert. Mit Herz und Seele geht das deutsche Publikum dankbar mit. "Alles eine Frage des Temperaments!", sagt ein lächelnder Konzertbesucher auf dem Weg nach draußen in die kühle Berliner Sommernacht.