Mexikos Schrei nach Gerechtigkeit
10. Oktober 2014Zwei Wochen nach der Entführung und Ermordung von Lehramtsstudenten in der Stadt Iguala im Bundesstaat Guerrero weisen die polizeilichen Ermittlungen erste Erfolge auf. 34 Tatverdächtige wurden festgenommen, darunter auch 26 Polizisten. Mexikos Armee und Gendarmerie haben die Kontrolle in Iguala übernommen und die lokalen Sicherheitskräfte entwaffnet.
Das Massaker von Iguala hat Mexiko in eine Art Schockstarre versetzt. Und es hat erneut die offene Wunde der wachsenden Gewalt im Land bloßgelegt. Die Zunahme brutaler Verbrechen, die sich aus der wachsenden Verstrickung von staatlicher Gewalt und organisierter Kriminalität ergibt, sorgt bei der Bevölkerung für Unruhe und Angst.
Offiziell gelten die 43 verschwundenen Studenten noch als "vermisst". Doch es wurden bereits sechs Massengräber mit 28 verkohlten Leichen entdeckt. Nach Angaben des mexikanischen Generalstaatsanwalts Jesus Murillo Karam sind am 9. Oktober vier weitere Gruben mit menschlichen Überresten aufgefunden worden.
"Ihr Zorn ist unser Zorn"
Unterdessen haben Studentenorganisationen und die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) angekündigt, die Morde an den Studenten rächen zu wollen. "Wir planen radikale Aktionen", erklärte ein Kommilitone aus dem Lehrerseminar Ayotzinapa gegenüber der Zeitung El País. "Wenn es nötig sein sollte, stürmen wir den Gouverneurspalast von Guerrero".
Rund 10.000 Menschen protestierten am 8. Oktober in Guerreros Provinzhauptstadt Chilpancingo gegen die ausufernde Gewalt. Im Bundesstaat Chiapas veranstalteten rund 20.000 Anhänger der EZLN-Guerilla einen Schweigemarsch durch die Stadt San Cristóbal de las Casas. Auch in Mexiko-City und in neun weiteren mexikanischen Bundesstaaten fanden Trauermärsche statt.
"Die Angehörigen sollen wissen, dass sie mit ihrer Trauer nicht alleine sind", erklärte EZLN-Subkommandant Moises in einem schriftlichen Kommuniqué an die Presse. "Ihr Schmerz ist unser Schmerz, ihr Zorn ist unser Zorn."
Unheilvolle Kooperation
Die Entführung und Ermordung der Lehramtsstudenten in Iguala ereignete sich bereits Ende September. Nach Informationen des Staatsanwalts des Bundesstaates Guerrero, Inaky Blanco, wurde der Angriff auf die Studenten von Polizisten und Kriminellen gemeinsam ausgeführt.
Die Polizisten hätten zunächst die drei von den Studenten gekaperten Busse in Iguala beschossen. Nach der Verhaftung hätten sie die jungen Leute im Polizeiquartier an das Verbrecherkartell "Guerreros Unidos" übergeben. Der flüchtige Bürgermeister von Iguala, José Luis Abarca, soll Verbindungen zum Kartell gehabt haben. Auch nach ihm wird gefahndet.
Die öffentliche Sicherheit und die Suche nach den Mördern der 43 "vermissten" Lehramtsstudenten ist in Mexiko mittlerweile zum Topthema avanciert. Immerhin konnte am 9. Oktober der nationale Sicherheitskommissar Monte Alejandro Rubido stolz die Festnahme eines weiteren gesuchten Drogenbosses, Vicente Carrillo Fuentes, verkünden.
Regierung unter Druck
Trotz der Ermittlungserfolge und erhöhter Ausgaben im Bereich Sicherheit und Soziales steht Mexikos Staatspräsident Enrique Peña Nieto zunehmend in der Kritik. Bestandteil der nationalen Sicherheitsstrategie ist unter anderem ein mit 7,6 Milliarden Euro ausgestattetes "Nationales Programm zur sozialen Verbrechens- und Gewaltprävention" sowie die Evaluierung von Polizisten.
Menschenrechtsorganisationen halten die Sicherheitsstrategie für unzureichend. "Das Massaker von Iguala zeigt, wie wenig sich der mexikanische Staat um das Thema Menschenrechte kümmert", meint Perseo Quiroz, Direktor von Amnesty International Mexico. "Er schiebt die Schuld auf das organisierte Verbrechen, um sich seiner eigenen Verantwortung zu entziehen."
Für den mexikanischen Politikwissenschaftler Carlos Pérez Ricart ist die brutale Repression von rebellischen Studenten "nicht ungewöhnlich". "Die Frage ist, wie viele Igualas noch aufgedeckt werden müssen, bevor sich etwas ändert", meint er. "Die Situation erinnert an die Ereignisse auf dem Balkan vor 20 Jahren, als immer neue Massaker entdeckt wurden. Damals war es so wie heute in Mexiko: Keiner ist verantwortlich."
Unterschiedliche Statistiken
Noch vor einem Monat, am 2. September 2014, hatte Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto bei der Vorstellung seines zweiten Regierungsberichts im Nationalpalast in Mexiko-Stadt Statistiken vorgelegt. Danach ist die Mordrate von Januar bis August 2014 gegenüber dem gleichen Zeitraum 2013 um 15 Prozent gesunken. Entführungen seien um neun Prozent zurückgegangen und Erpressungen um 22 Prozent.
Die mexikanische Menschenrechtskommission (CNDH) legt andere Zahlen vor. Sie registrierte im vergangenen Jahr 600 Prozent mehr Anzeigen wegen Folter und Misshandlungen durch Polizisten und Soldaten als zehn Jahre zuvor - eine Folge verstärkter Militäreinsätze gegen die Drogenkriminalität. Auch das gewaltsame Verschwinden von Menschenrechtlern habe im Vergleich zur Vorgängerregierung Felipe Calderóns um 60 Prozent zugenommen.
Beim Globalen Friedensindex 2014 liegt Mexiko von insgesamt 162 untersuchten Staaten auf Platz 138. "Seit Beginn der Militäroperationen gegen die mächtigen Kartelle Ende 2006 hat die Gewalt in Mexiko stark zugenommen", heißt es in dem Bericht des Instituts für Wirtschaft und Frieden. Wegen der Bekämpfung des Drogenhandels suchten sich die Kartelle neue "Geschäftsfelder" wie Entführungen oder Erpressungen.
Nach Angaben der UN-Organisation UNDOC für Drogen- und Verbrechensbekämpfung ist die Mordrate in Mexiko stark gestiegen und liegt mittlerweile bei 21,5 Opfern pro 100.000 Einwohnern. In von Kartellen beherrschten Regionen kommen auf 100.000 Einwohner sogar 100 Morde. Der weltweite Durchschnitt liegt bei 6,2.
"Das Massaker in Iguala gehört zu den grausamsten und gravierendsten Menschenrechtsverletzungen unter der Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto", meint Amnesty-Direktor Perseo Quiroz. "Es gibt deutliche Indizien dafür, dass staatliche Sicherheitskräfte daran beteiligt waren."