"Mexiko ist kein gescheiterter Staat"
26. Mai 2015Deutsche Welle: Vergangene Woche sind bei einem Gefecht zwischen Söldnern eines Drogenkartells und der Polizei mindestens 40 Menschen erschossen worden. Anfang Mai hatten Mitglieder desselben Kartells einen Militärhubschrauber abgeschossen. Ist das eine neue Eskalationswelle oder Alltag im mexikanischen Drogenkrieg?
Günther Maihold: Die staatlichen Einheiten sind in letzter Zeit verstärkt gegen das "Cartel Jalisco Nueva Generación" vorgegangen. Das Gefecht vom vergangenen Wochenende fand aber nicht in dessen Hauptaktionsgebiet - dem Bundesstaat Jalisco - statt, sondern im benachbarten Michoacán.
Es tritt also der sogenannte "Kakerlaken-Effekt" ein: Die Bande hält sich in ihrem eigentlichen Einflussgebiet bedeckt und versucht sich in benachbarten, weniger kontrollierten Regionen als Ordnungsmacht zu profilieren. Nun bahnt sich dort ein neuer Konflikt zwischen den Autoritäten und dem aufstrebenden Kartell Nueva Generación an.
Stichwort "aufstrebend": Die spanische Zeitung "El Pais" bezeichnete die Nueva Generación kürzlich als gefährlichstes Kartell Mexikos. Wie lässt sich so etwas messen?
Meist führt man die Mordzahlen an. Danach wäre das "Cartel del Golfo" in der nordöstlichen Provinz Tamaulipas wohl immer noch die Nummer eins, gefolgt von "Los Zetas" und der Nueva Generación. Die Nueva Generación versucht schon lange, ihr Einflussgebiet auf die Nachbarstaaten Michoacán und Guerrero auszudehnen, wo sie allerdings dem Kartell der "Tempelritter" gegenüberstehen.
Gehen aufstrebende Kartelle brutaler vor als etablierte?
Ich würde eher sagen: Je weniger Kartelle es in einer Region gibt, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie miteinander verhandeln. Ihre Zahl ist aber gestiegen. Das hat die Konkurrenz verschärft. Derzeit kämpfen 14 Kartelle um Einflussgebiete, Drogenrouten und Grenzübergänge in die USA.
Der Staat ist offensichtlich unfähig, seine Bürger vor ihrer Gewalt zu schützen. Deshalb haben sich zum Beispiel in Michoacán Milizen gebildet. Warum entwaffnet die Regierung solche Bewegungen, anstatt sie bei der Selbstverteidigung zu unterstützen?
Solche Bürgermilizen vereinen unterschiedlichste Interessengruppen: privatwirtschaftliche, bürgerliche - aber es schließen sich auch Leute an, die schon länger im Gewaltgeschehen aktiv waren und sich nun eine aussichtsreiche Position erhoffen. In Michoacán etwa soll die Nueva Generación eine Miliz im Kampf gegen die Tempelritter unterstützt haben.
Dennoch versucht die Zentralregierung, diese bewaffneten Einheiten von Straftätern zu befreien und als "Guardias Rurales" [Anm. der Red.: zu dt. etwa: Landpolizei] zu legalisieren.
Wie kann man davon ausgehen, dass da die "Richtigen" entfernt werden?
In Michoacán - aber auch andernorts - hat die Zentralregierung in einem ersten Schritt kommunale und bundesstaatliche Sicherheitsorgane durch eigene Einheiten ersetzt. Mit Hilfe von Bürgerinitiativen, Bürgerwehren und anderen Kräften, die ihnen lokales Wissen zur Verfügung stellen, versucht sie herauszufinden, wer die Straftäter - auch in den staatlichen Behörden - sind. Nach diesem Reinigungsprozess sollen die örtlichen Behörden ihre Aufgaben wieder selbst wahrnehmen.
Viele Milizionäre sind inzwischen im Gefängnis gelandet, andere bewerben sich bei den anstehenden Kommunalwahlen um politische Ämter. Es muss sich zeigen, ob daraus eine neue politische Klasse erwächst, die genauso ihre Klientelnetze bedient wie die alte, oder eine, die das neue Sicherheitsmodell konsolidiert und mitträgt.
Derzeit scheint aber noch das Prinzip Jeder-gegen-jeden zu gelten. Kann man von einem Bürgerkrieg in Mexiko sprechen?
Nein, der Begriff ist unpassend. Zunächst einmal kämpft nicht jeder gegen jeden, sondern spezifische Koalitionen gegeneinander. Ein Bürgerkrieg ist es aber vor allem deshalb nicht, weil sich die Kartelle - im Gegensatz beispielsweise zu Guerilla-Gruppen - nicht gegen die Grundordnung des Staates auflehnen. Die Kartelle verfolgen kein politisches Projekt, nicht einmal einen Regierungswechsel.
Bleiben wir also bei "Drogenkrieg". Wie präsent ist der in Mexiko-Stadt, wo Sie leben und arbeiten?
Überhaupt nicht. Der Drogenkrieg ist nach wie vor ein territoriales Problem in bestimmten Bundesstaaten. Aber auch dort bedeutet das nicht, dass man nicht mehr auf die Straße gehen kann. Es sind eher Gewaltwellen, als eine permanente Gefahr.
Außerdem ist der Staat auch dort nicht verschwunden. Es gibt weiterhin ein Bildungssystem, ein Gesundheitssystem, es werden Pensionen bezahlt. Deshalb finde ich die Rede von Mexiko als gescheitertem Staat auch sehr einseitig. Auch wenn die Sicherheitsfunktion des Staates in manchen gegenden außer Kraft gesetzt ist, ist Mexiko für mich keinesfalls ein gescheiterter Staat.
Die Gefahr ist in manchen Regionen immerhin so präsent, dass fast 250.000 Fälle von gewaltsamer Vertreibung dokumentiert sind. Manche Schätzungen über die Gesamtzahl gehen von mehr als einer Million aus - das wäre mehr als ein Prozent der mexikanischen Bevölkerung.
Solche Vertreibungen sind vor allem aus Tamaulipas uns Ciudad Juárez an der US-Grenze bekannt. Sie gehen tatsächlich nicht nur auf direkte Gewalt zurück, sondern auf eine Vielzahl anderer Delikte. Vor allem Schutzgelderpressung hat dazu geführt, dass in manchen Gegenden Geschäfte geschlossen wurden, das Wirtschaftsleben zum erliegen gekommen ist und daraufhin auch andere Menschen den Bundesstaat verlassen haben.
Aber es gibt auch Fälle, in denen es gelungen ist, mit staatlichen Maßnahmen soziale Strukturen wiederaufzubauen, das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen und damit auch die Wirtschaft wiederbelebt hat.
Günther Maihold ist Soziologe und Politologe, stellvertretender Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik sowie aktueller Inhaber des Wilhelm und Alexander von Humboldt Lehrstuhls an der Universität Colégio de México in Mexiko-Stadt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört der Zusammenhang zwischen Regierungsführung und organisierter Kriminalität.
Die Fragen stellte Jan D. Walter