"Mevlüde Genc ist Solingens Friedensengel!"
29. Mai 2018"Wir hatten solche Angst damals. Wir haben unser Wohnzimmerlicht für ein paar Tage ausgeschaltet und unsere Kinder nicht in die Schule geschickt." Zafer Ekiz kann den 29. Mai 1993 und die darauffolgenden Tage der Qual für viele Deutschtürken in Solingen nicht abschütteln. Vor 25 Jahren hatten vier junge Männer mit Verbindungen in die rechtsextreme Szene einen Brandanschlag auf das Haus der Familie Genc verübt, dabei kamen zwei junge Frauen und drei Mädchen ums Leben. Hat er damals oder heute einen Gedanken daran verschwendet, Solingen zu verlassen? "Nein, nie, genauso wenig wie Mevlüde Genc." Der 54-Jährige hat zwei Söhne, die in Solingen geboren und deutsche Staatsbürger sind. "Wir bleiben hier, und ich sterbe hier in Solingen."
Die Geschichte von Zafer Ekiz ist eine typische türkische Einwanderergeschichte. 1963 war sein Vater als Bergmann nach Deutschland gekommen, seinen Sohn holte er 15 Jahre später nach. Seit 1985 lebt Ekiz in Solingen, dem Ort, der für einen der schlimmsten fremdenfeindlichen Anschläge in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland steht. "Es ist viel besser geworden seit dem Anschlag", versichert der Fabrikarbeiter, an weitere fremdenfeindliche Attacken kann er sich nicht erinnern. Mit Familie Genc sind sie befreundet, noch vor einer Woche haben seine Frau und er Mevlüde Genc besucht, um ihr kurz vor dem Gedenktag Mut zuzusprechen: "Sie ist doch unser Friedensengel!"
Kritik an politischer Überfrachtung des Gedenktages
Auch viele Deutsche haben sich auf dem Weg zur Gedenkveranstaltung gemacht. So wie Iris Michelmann, die sich noch genau an den 29. Mai 1993 erinnern kann. "Es war ein richtiger Schock!" Die 58-Jährige war zum Zeitpunkt des Brandanschlages bei der Taufe ihrer Nichte in Hamburg und fuhr am folgenden Tag zurück in ihre Heimatstadt. "Die Stimmung war sehr beängstigend damals." Heute sitzt sie für die Grünen im Solinger Stadtrat und findet den politischen Aufmarsch zum Gedenktag deplatziert.
Wenig Verständnis hat Michelmann auch für die Menschen, die Mevlüde Genc kritisieren, weil sie ihre Reden immer noch auf Türkisch hält. "Auch wenn sie kein Deutsch spricht, hat Mevlüde Genc viel mehr für die Verständigung getan, weil sie eine Sprache des Herzens spricht, was viele Kritiker nicht können." Zur Gedenkveranstaltung ist sie gekommen, um Flagge zu zeigen, auch weil "es Menschen in Solingen gibt, die einen Schlussstrich ziehen wollen."
Rechte Positionen erreichen Solingens politische Mitte
Viele Solinger wie Irene Scheuer wollen sich das nicht bieten lassen. "Die rechtsextremen Positionen kommen auch hier leider immer näher", sagt die 49-Jährige, deswegen sei es für sie eine Herzensangelegenheit gewesen zu kommen, "um ein Zeichen gegen Rechts zu setzen".
Die AfD hatte im Vorfeld des Gedenktages Zweifel daran geäußert, dass der Anschlag einen fremdenfeindlichen Hintergrund hatte. Scheuer schaut ihren Mann an und schüttelt nur den Kopf. Die Bilder von Mai 1993 kann auch sie nicht vergessen. "Entsetzen, Trauer und ein Spur von Ungläubigkeit" habe sie damals gefühlt, "man macht den Fernseher an, und plötzlich ist Solingen der Aufmacher bei der Tagesschau."
Großes Engagement während der Flüchtlingskrise
Tim Kurzbach war damals 15, nur wenig jünger als die Täter, wie er sagt. Solingens heutiger Oberbürgermeister ging am Tag nach dem Brandanschlag mit seinen Eltern zum abgebrannten Haus in der Unteren Wernerstraße 81, und wurde in diesem einen Moment "politisch sozialisiert", erinnert sich Kurzbach. "Ich war so fassungslos und mir war klar: 'Es muss etwas getan werden, damit so etwas nie wieder passiert'."
Den Anfang machte dabei Mevlüde Genc selbst, sagt Kurzbach mit Hochachtung: "Bis heute ist es für mich enorm beeindruckend, wie viel Kraft Mevlüde Genc hatte, direkt nach der Tat zur Versöhnung aufzurufen." Heute sei Solingen bunt und weltoffen, "ein Ort der Integration", mit Menschen aus über 140 Nationen, mit einer Vielzahl zivilgesellschaftlicher Bündnisse. "Die Stadt hat sich seit dem Brandanschlag wirklich nachhaltig zum Positiven verändert." Dies habe sich besonders bei der Flüchtlingskrise 2015 gezeigt, erinnert sich Kurzbach stolz. Damals hätten Tausende Solinger mit angepackt, privaten Wohnraum zur Verfügung gestellt und ehrenamtlich Deutschkurse gegeben.
Und welches Signal soll seiner Meinung nach von dieser Gedenkveranstaltung ausgehen? "Wir müssen gegen Extremismus jeder Art kämpfen und uns engagieren, und das jeden Tag" fordert Kurzbach. Es reiche nicht aus, zu Hause im Stuhl zu sitzen, Demokratie sei kein Selbstzweck, sondern Aufgabe eines jeden. "Und dies gilt nicht nur für Solingen, sondern für ganz Deutschland."