"Bekenntnis zu zwei Kulturen ist kein Defizit"
26. Juli 2018Prof. Dr. Ahmet Toprak kommt als Sohn türkischer Gastarbeiter nach Deutschland. Dem deutschen Schulunterricht kann er nur schlecht folgen, wird von der Lehrerin als schlechter Schüler abgestempelt. Eine Empfehlung für die weiterführende Schule bekommt Toprak nicht. Weil er aber unbedingt das Abitur machen will, geht Toprak zurück in die Türkei, wo er die Prüfung zur allgemeinen Hochschulreife erfolgreich besteht. Inzwischen lehrt Toprak seit über zehn Jahren als Professor für Erziehungswissenschaften an der FH Dortmund. In seinem Buch "Auch Alis werden Professor" erzählt er seine eigene Geschichte.
Deutsche Welle: Herr Professor Toprak, nach dem Rücktritt von Mesut Özil aus der deutschen Fußballnationalmannschaft gibt es hier im Land einen Diskurs über "hybride Identitäten" von Menschen mit Migrationshintergrund, die sich zwei oder mehreren Kulturen zugehörig fühlen. Was erzählt uns diese Debatte über den Zustand unserer Gesellschaft?
Ahmet Toprak: Das ist eine sehr gute Frage. Man muss das von zwei Ebenen aus betrachten: die der Menschen mit Migrationshintergrund und die der Mehrheitsgesellschaft. Viele Menschen mit Migrationshintergrund fühlen sich in Deutschland wohl und zugehörig. Aber sie bleiben auch dem Herkunftsland ihrer Eltern verbunden. Für diese Menschen ist das ganz normal. Psychologisch betrachtet ist es das auch. Aus der Wissenschaft wissen wir, dass Menschen mehrere Identitäten haben können und es sie bereichert.
Die Mehrheitsgesellschaft wiederum erwartet von Menschen mit Migrationshintergrund eine 105 prozentige Loyalität gegenüber Deutschland. Das kann natürlich nicht jeder leisten. Aber auch nicht jeder Deutsche ohne Migrationshintergrund kann sich zu hundert Prozent mit Deutschland identifizieren. Es gibt immer auch Kritikpunkte. Das ist der Knackpunkt, wir haben ein Kommunikationsproblem: Die einen erwarten zu viel und die anderen können diese Erwartungen nicht erfüllen.
Was bedeutet es, mit einer "hybriden Identität" zu leben? Was macht das mit demjenigen, der sich mit zwei Kulturen identifiziert?
Es wird einem nicht leicht gemacht. Man kann nicht einfach sagen "Ich bin Deutscher" mit schwarzen Haaren und braunen Augen. Das wird in dieser Form nicht sofort akzeptiert, sondern es wird nachgefragt: Warum Deutscher? Woher kommen deine Eltern, woher kommen deine Großeltern? Ich unterstelle keinem, der solche Fragen stellt, Rassismus. Aber es wird wieder dieses Migrantische, Ausländische, Nichtdeutsche gesucht. Das ist für viele Betroffene nervig und löst Trotzreaktionen aus. Viele denken sich, naja, okay dann eben nicht. Ich kann diesen Frust auch nachvollziehen.
Mesut Özil hat seine Jugend und Kindheit in Gelsenkirchen verbracht. In seiner Biografie hat er erzählt, dass er sehr türkisch erzogen wurde und kaum Deutsch reden musste in seinem Stadtteil. Das ist vielen migrantischen Jugendlichen nicht fremd, sie leben zwischen zwei Kulturen und lernen, diese in sich zu vereinen. Dass es sich dabei eigentlich um eine Kompetenz handelt, wird in der öffentlichen Wahrnehmung oft vernachlässigt. Wir erleben immer wieder, dass es von der Mehrheitsgesellschaft als Integrationsdefizit interpretiert wird, wenn man sich zu beiden Kulturen bekennt. Dabei besteht genau darin die Hybridität.
Woran liegt es, dass es in Deutschland vielen Menschen schwerfällt, diese Hybridität nachzuvollziehen?
Hier kommt der Islam ins Spiel. Bei anderen Nationalitäten, zum Beispiel Italienern, Spaniern oder Franzosen, wird diese Kompetenz anerkannt. Der ausländische Dialekt wird als sexy, nett und romantisch wahrgenommen, Sprachdefizite werden nicht mit Desintegration in Verbindung gebracht. Aber Türken oder Arabern wird genau das als Integrationsunwilligkeit ausgelegt. Das geht an den Leuten nicht spurlos vorbei. Sie tragen den Stempel Muslim auf der Stirn, ob sie nun gläubig sind oder nicht.
Mesut Özil ist einer der erfolgreichsten deutschen Fußballnationalspieler. Plötzlich wird ihm unterstellt, er sei nicht "deutsch" genug. In seinem Statement hat er formuliert: "In den Augen von Grindel und seinen Helfern bin ich Deutscher, wenn wir gewinnen, und ein Immigrant, wenn wir verlieren." Wie schätzen Sie das ein, haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht?
Ja, ich kann das persönlich bestätigen. Ich habe ganz gemeine Erfahrungen gemacht und mache sie immer noch. Letztens kam meine Sekretärin und sagte, da ist jemand, der möchte Sie sprechen. Derjenige sagte dann zu mir, er wolle nicht mit mir reden, sondern mit dem Dekan. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ich der Dekan bin. Mein Weg zur Professur war sehr mühsam, ich hatte immer wieder mit Vorurteilen zu kämpfen. Es sind diese Kleinigkeiten, die einem im Alltag das Leben schwer machen. Ich glaube, darauf wollte Mesut Özil hinweisen.
Was ich persönlich tragisch finde, ist, dass die Gewinner dieser Debatte die Nationalisten sind. In der Türkei sowie in Deutschland profitieren sie von Özils Rücktritt und instrumentalisieren ihn für ihre Zwecke.
Das Gespräch führte Paula Rösler.