Metalle mit Gedächtnis
11. Juni 2013Svetlana von Gratowski hat eine dünne metallene Sprungfeder vor sich auf den Tisch gelegt. Sie packt das Stück an beiden Enden und zieht daran: Aus der Feder wird ein gerader Draht. Wäre die Feder aus normalem Metall, wäre es jetzt fast unmöglich, sie wieder in ihre ursprüngliche Form zu bringen. Aber das gelingt der Dortmunder Physikerin mühelos. Sie legt den Draht einfach in die geöffnete Handfläche und erwärmt ihn. Blitzschnell nimmt der Draht wieder die gewundene Federform ein.
Das funktioniert, weil der Draht aus einer speziellen Nickel-Titan-Legierung ist, die sich an eine einmal eingeprägte Form erinnern kann. "Auch Nickel-Titan-Kupfer Legierungen eignen sich dafür", so Björn Senf, vom Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU in Dresden. Der Ingenieur entwickelt medizinische Produkte, die sich die Fähigkeiten dieser Formgedächtnislegierugnen zunutze machen.
Wärmeaktivierte Knochendübel
"Beispielsweise kann man die Verankerung eines Implantats im Knochen verbessern, indem man Stellelemente aus Formgedächtnislegierungen in das Implantat einbaut", erklärt Senf ein mögliches Anwendungsgebiet.
Das funktioniert ähnlich wie ein Dübel in der Wand - nur, dass nicht eine Schraube die Verankerungen des Dübels auseinanderdrückt, sondern dass dies der Mensch selbst durch seine Körperwärme tut. Die Stellelemente sind nämlich so eingestellt, dass sie sich bei einer Körpertemperatur von 37 Grad Celsius in die ausgeschnittenen Knochenwände pressen.
Nach demselben Prinzip hat Svetlana von Gratowski mit ihrem Forscherkollegen Victor Koledov Zahnimplantate entwickelt, bei denen künstliche Zahnwurzeln aus Formgedächtnislegierungen bestehen. Nach dem Einsetzen des künstlichen Zahns biegen sich die Zahnwurzeln und verankern sich so im Kiefer.
Das Besondere dabei: Ähnlich wie natürliche Zahnwurzeln, behalten die metallenen Verankerungen eine gewisse Elastizität. Das ist gewünscht, denn so können sie sich an Kräfte anpassen, die beim Kauen auftreten. Mittels eines Implantat-Gels wachsen sie dann in den Knochen wieder ein.
Anschmiegsames Gewebe für Stützverbände
Und es gibt noch viele weitere Anwendungen für diese Funktionswerkstoffe in der Medizin: Forscher am Fraunhofer IWU machen sich dabei neben den thermischen auch die ungewöhnlich guten elastischen Eigenschaften des Materials zunutze.
So haben sie ein Hybridgewebe aus Textil und Formgedächtnisdraht entwickelt, dass zwar gut verformbar ist, aber auch immer wieder in seine Ausgangsform zurückdrängt. Wird dieses Gewebe zum Beispiel für Orthesen - also Stützverbände - verwendet, übt es einen definierten, sanft unterstützenden Druck auf die geschiente Gliedmaße, wie Knie, Knöchel oder Fuß, aus.
Wegen ihrer Elastizität eignen sich Nickel-Titan-Legierungen auch hervorragend für Blutgefäß-Implantate. Forscher der Ruhr-Universität Bochum haben einen Stent entwickelt, dessen Elastizität ähnlich dem der Arterie ist, in die er eingesetzt wird, um einen Gefäßverschluss zu beseitigen. Zur Herstellung nutzen sie ein Flechtverfahren, bei dem die Stent-Schläuche aus Drähten hergestellt werden.
Der große Vorteil von Formgedächtnislegierungen besteht darin, dass sich die Temperaturen, auf die sie reagieren sollen und die Kräfte, mit denen sie wirken sollen, je nach Anwendung sehr genau einstellen lassen.
Diese Vielseitigkeit hat aber auch ihren Preis: Um das gewünschte Ergebnis zu erzielen, ist ein Höchstmaß an Präzision bei der Herstellung nötig, so der Dresdner Forscher Senf. "Die große Herausforderung besteht darin, dass gerade das Legierungsverhältnis von Nickel zu Titan auf den Promillebereich eingehalten werden muss."
Ersatz für Elektromagneten
Verändert der Hersteller nun den Nickel Anteil nur geringfügig, verändert sich die Umwandlungstemperatur dagegen stark. Die große Variabilität macht die Legierungen dafür aber auch zur Wunderwaffe im Maschinen- und Anlagenbau. Ideal sind sie zum Beispiel, um störanfällige Elektromagneten zu ersetzen.
Leitet man einen Strom durch einen solchen Draht, führt die dadurch hervorgerufene Erwärmung zum Formgedächtniseffekt, der durch Verformung mechanisch etwas auslösen kann - beispielsweise einen Verschluss, eine Tür oder ein Ventil öffnen und schließen. Dass damit zugleich auch mehr Sicherheit erreicht wird, zeigen die Forscher vom Fraunhofer IWU am Beispiel von Sauerstoffmasken, die bei einem Druckabfall aus der Kabinendecke eines Passagierflugzeugs fallen:
Die Klappen, unter denen sich die Masken verbergen, könnten in Zukunft durch solche temperaturgesteuerten Schalter ausgelöst werden. Vorteile gegenüber herkömmlichen Auslösemechanismen gibt es viele: Die Anzahl der Bauteile ist geringer, es gibt also weniger, was kaputt gehen kann, das System ist leichter und nimmt weniger Platz weg. Auch braucht der Schalter weniger Strom als ein Elektromagnet - Kabelbrände werden so sehr unwahrscheinlich.
Auch eine Roboterhand haben die Forscher gebaut. Die Nickel-Titan-Drähte wirken darin wie Muskeln in einer menschlichen Hand. Über eine präzise Temperatursteuerung ist es dabei gelungen, die Finger stufenlos zu steuern. Und darüber hinaus erkennt die Hand auch, wie viel Kraft sie gerade ausübt.
Das Dortmunder Forscherteam Koledov und Gratkowski hat sich sogar in viel kleinere Bereiche vorgewagt: Mit einem ultrafeinen Laser haben sie aus einem Nickel-Titan-Blech eine Nano-Zange geschnitten. Die mikroskopisch kleinen Greifer der Zange öffnen und schließen sich immer dann, wenn sich die Umgebung erwärmt oder abkühlt. Die Zange ist so präzise, dass sich damit sogar die Körperhaare einer Mücke abknipsen und an eine andere Stelle verschieben lassen.