"Dschihadismus vergleichbar mit Stalinismus"
21. Januar 2015Deutsche Welle: Herr Messner, seit einigen Jahren beobachten wir in der islamischen Welt den Aufstieg einer dschihadistischen Ideologie. Deren Vertreter, allen voran der "Islamische Staat" (IS), setzen diese mit einer nie gekannten Brutalität um. Was sind die Hintergründe dieser Entwicklung?
Dirk Messner: Das hat sehr viel mit Dynamiken in der islamischen Welt selbst zu tun. Der Dschihadismus ist durch eine Auseinandersetzung mit den Regimen im Nahen Osten entstanden. Es handelte sich ja fast ausnahmslos um autoritäre Herrschaftsstrukturen. Die einzig mögliche Opposition gründete auf muslimisch-religiösen Bewegungen. Die anderen, liberalen Bewegungen wurden nicht zugelassen. Und ein Teil dieser Bewegungen hat sich radikalisiert und ist zu dem geworden, was wir heute als "IS" oder "Al-Kaida" kennen.
Auch die westlichen Staaten kennen ja das Phänomen des Terrorismus - man denke etwa an die RAF in Deutschland. Woher kommt es, dass sich entsprechende Gruppen im Nahen Osten derzeit nahezu alle auf eine religiöse Ideologie berufen?
Die anderen Widerstandsoptionen waren versperrt und verbraucht. Man muss bedenken, dass sich in den 1960er und 70er Jahren in diesem Raum eine ganze Reihe von Herrschern als sozialistisch bezeichnet haben. Man denke etwa an Präsident Gamal Abdel Nasser in Ägypten. Zugleich haben sie autoritäre Herrschaftsstrukturen aufgebaut. Das hieß, dass der Sozialismus in den Augen der arabischen Öffentlichkeit bereits weitgehend verbrannt war. Zugleich war eine in Richtung einer liberalen Demokratie ausgerichtete Opposition kaum möglich. Denn die liberalen westlichen Gesellschaften - Europa, die USA - haben im Schatten des Kalten Krieges und im Namen der Stabilisierung der Region die autoritären Herrscher unterstützt. Insofern wurden die westlichen Staaten von den Bürgern der Region als Unterstützer der lokalen Herrschaftsapparate wahrgenommen. Dadurch war auch der Liberalismus kompromittiert.
Wenn wir auf Europa, derzeit vor allem auf Frankreich schauen: Wie ist hier der Dschihadismus zu erklären?
Es gibt zahlreiche Ursachen. Viele sind in den einzelnen nationalen Gesellschaften angelegt. Die Pariser Attentate spiegeln sicher auch die Ausgrenzung vieler muslimischer Migranten aus der französischen Gesellschaft und Wirtschaft. Diese Leute sehen sich dann etwa Arbeitslosigkeit und Rassismus gegenüber. Es gibt also viele innenpolitische Ursachen, denen man auch mit innenpolitischen Mitteln begegnen kann. In Deutschland haben wir ähnliche Probleme. Hier leben junge Muslime, die etwa auf dem Arbeitsmarkt große Schwierigkeiten haben. In einer solchen Situation stellt sich dann die Frage, in welchen Protestformen sich die Betroffenen organisieren. Einige radikalisieren sich in solchen Fällen. Sie hatten den Protest der 1970er Jahre angesprochen: linke oder sozialistische Utopien. All das ist ja verbraucht. Insofern werden die Anliegen dann religiös aufgeladen. Denn alle anderen ideologischen Optionen sind verbrannt.
Dennoch kann man bisweilen den Eindruck haben, einige der extremistischen Akteure verfolgten ein aus ihrer Sicht aufrichtiges religiöses Anliegen.
Mir scheint, das hat mit Identitätsfragen zu tun. Wenn französische Bürger muslimischen Glaubens den Eindruck haben, ihnen werde eine französische Identität und das Ansehen als vollwertiger Bürger verweigert, suchen sie nach anderen Möglichkeiten der Identitätsstiftung. Diese finden sie in der Religion. Alle Menschen brauchen Identität und Anerkennung. Diese Suche kann dann radikale Antworten finden. Auch die RAF operierte ja in einem Umfeld, das mit ihr in Teilen sympathisierte und das deren Anliegen in Teilen auch für vernünftig hielt - etwa die Opposition gegen den Vietnam-Krieg. Oder den Aufstand gegen veraltete gesellschaftliche Strukturen. Strukturell ist diese fundamentalistische Opposition vergleichbar. In den 1970ern artikulierte sie sich politisch, heute artikuliert sie sich religiös.
In Brüssel berieten die EU-Außenminister über Maßnahmen gegen den Terror. Das werden kurzfristig solche der Geheimdienste und des Militärs sein, langfristig dann auch sozialpolitische Instrumente. Wie betrachten Sie diesen Maßnahmenkatalog?
Der Dschihadismus ist ja ein transnationales Phänomen. Er hat in vielen Weltregionen Platz gegriffen. Ich würde ihn mit dem Stalinismus und Kommunismus des 20. Jahrhunderts vergleichen - nämlich im Hinblick auf die totalitäre Ausrichtung, die auf die Vernichtung der politischen Gegner gerichtet ist. Davor muss man sich mit polizeilichen und sicherheitspolitischen Maßnahmen schützen. Denn mit diesen Akteuren lässt sich ja nur schwer ein Dialog führen. Das ist die kurzfristige Perspektive. Die langfristige Perspektive geht darüber hinaus: Die Beziehung zwischen den westlich-europäischen Gesellschaften und der islamischen Welt hat ja an sich bereits eine sehr schwierige Dynamik. Es herrschen Missverständnisse und Vorurteile, auf westlicher Seite insbesondere gegenüber dem Islam. Daran müssen wir stark arbeiten. Eine weltweite Kooperationskultur wird nicht entstehen, wenn "der Westen" und die heterogene "islamische Welt" einander nicht besser verstehen lernen.
Wie sehen die langfristigen Strategien denn politisch aus?
Wir müssen immer bedenken, dass die europäischen Staaten bei den ursprünglichen Oppositionsbewegungen des Arabischen Frühlings kein gutes Ansehen haben. Denn sie hatten die autoritären Herrscher früher unterstützt. Darum müssen wir uns um sie bemühen. Wir müssen deutlich machen, dass wir an der politischen, ökonomischen und sozialen Entwicklung der Region Interesse haben; und dass wir bereit sind, die neuen, auf liberale Verhältnisse drängenden Kräfte zu unterstützen. Anschließend müssen wir im Hinblick auf die einzelnen Länder unterschiedliche Dinge tun. Es gibt ja recht stabile Länder wie Tunesien oder Marokko. Mit ihnen sollten wir beispielsweise durch Energiepartnerschaften eine neue Qualität der Beziehungen anstreben. In Ländern wie dem Irak, Syrien und Libyen geht es um Staatenstabilisierung, um gesellschaftliche Stabilisierung, Sicherheit. Es geht um Institutionenaufbau und darum, so schnell wie möglich jene Personen zu unterstützen, die diese Gesellschaften modernisieren wollen. Zudem muss man bedenken, dass derzeit in der Region ja Grenzen infrage gestellt werden, die nach dem Ersten Weltkrieg gezogen wurden. Die EU sollte sich hier um ein Partnerschaftsabkommen bemühen, dass zur Neuordnung der Region beiträgt. Das ist natürlich ein sehr langfristiges Projekt. Umso mehr kommt es darauf an, es rasch in Gang zu setzen.
Der Politologe und Ökonom Dirk Messner ist Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik.
Das Gespräch führte Kersten Knipp.