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Politik

Merkel oder Erdogan: Wer setzt sich durch?

2. September 2017

Wo ist die Schmerzgrenze? Nach der Verhaftung weiterer deutscher Staatsbürger wird in Berlin über den Umgang mit Ankara debattiert. Trotz unterschiedlicher Ansichten scheint klar: Weitermachen wie bisher geht nicht.

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Bildkombo Angela Merkel Recep Tayyip Erdogan
Bild: picture-alliance/dpa/Sagolj/Zivulovic/Kombo

Reagieren ja. Aber wie? Wie ließe sich angemessen auf die jüngsten Vorfälle in der Türkei, die Verhaftung zweier Bundesbürger antworten? Die Diskussion darüber eröffnete Bundeskanzlerin Merkel selbst. Sie erklärte am Freitagabend in Nürnberg, die Festnahmen in der Türkei hätten "in den allermeisten Fällen keinerlei Grundlage". "Und deshalb müssen wir hier auch entschieden reagieren", fügte Merkel an, ohne aber konkrete Maßnahmen zu nennen. Angesichts der jüngsten Ereignisse müsse die Bundesregierung ihre Türkei-Politik "vielleicht weiter überdenken." Die CDU-Vorsitzende hatte bereits deutlich gemacht, dass sie die Verhandlungen über eine Zollunion zwischen EU und der Türkei zunächst blockieren wolle.

Anderen Politikern ist das zu wenig. "Keine Ausweitung der Zollunion, keine Hermesbürgschaften." In der Zeitung "Münchner Merkur" nennt der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir Erdogan einen "Geiselnehmer, der Menschen gefangen nimmt, um uns zu erpressen". Die einzige Sprache, die Erdogan verstehe, sei "die Sprache des Geldes." Und auch Sevim Dagdelen von der Linkspartei forderte in der "Bild"-Zeitung ein "Ende der Beschwichtigungspolitik" von Kanzlerin Merkel und Außenminister Sigmar Gabriel". 

Offen ist allerdings, auf welche Politik Erdogan überhaupt reagiert. "Wir wollen weiterhin Einflussmöglichkeiten haben. Die hat man aber bei jemandem wie Erdogan nicht, wenn man einfach nur draufhaut. Da muss man schon mit ruhiger Hand steuern", sagt Sylke Tempel, Chefredakteurin der Zeitschrift "Internationale Politik", im Gespräch mit der DW. Die bisherige Reaktion der Bundesregierung sei bislang durchaus angemessen: "Sie verschärft die Reise- und Sicherheitshinweise und zieht so die Daumenschrauben an." Allerdings gibt es keine Garantie, dass das zu irgendetwas führe.

Türkei Antalya International Airport
Riskante Destination: Am Flughafen von Antalya wurden kürzlich zwei weitere deutsche Staatsbürger festgenommenBild: Imago/S. Bobylev

Einbußen im Tourismus

Ausgeschlossen ist es allerdings auch nicht. Seit Beginn des Jahres 2016, schreibt der Türkei-Experte Gerhard Schweizer in seinem Buch "Türkei verstehen", seien die Zahlen der Türkeibesucher massiv, nämlich um 28 Prozent, abgesackt. Die Flughafenbehörde in Antalya hatte bereits in der ersten Jahreshälfte 2016 einen Rückgang um 47 Prozent gemeldet. Auch Deutsche Touristen meiden die Türkei seit geraumer Zeit.

Kamen im 2015 noch 5,6 Millionen deutsche Reisende in die Türkei, waren es 2016 nur noch vier Millionen. Dieser Trend setzte sich auch 2017 fort. "Wir haben in den ersten Monaten des Jahres 2017 gesehen, dass es zu einem nochmaligen Rückgang bei Buchungseingängen im Vergleich zu den entsprechenden Vorjahresmonaten kam", sagt Torsten Schäfer, Pressesprecher des Deutschen Reiseverbands, der größten Interessenvertretung der Branche in Deutschland in der Zeitung "Der Tagesspiegel".

Diese Entwicklung könnte dem Land insgesamt gefährlich werden, schreibt Gerhard Schweizer. "Der Abwärtstrend dürfte noch drastischer ausfallen, ja, er könnte sich möglicherweise zum freien Fall beschleunigen, sollte die Türkei politisch und gesellschaftlich nicht zur Ruhe kommen." Bisher habe die Türkei als einziger islamisch geprägter Staat den Ruf genossen, ein 'sicheres Reiseland' zu sein. Das Land habe Millionen von Urlaubern angelockt, die sich aus Angst vor Terroranschlägen und sozialen Unruhen nicht mehr in die Länder des Nahen Ostens reisen wollten. "Nun aber verschlechtert sich der Ruf der Türkei von Tag zu Tag und rückt dem schlechten Image krisengeschüttelter arabischer Länder bedenklich nah", so Schweizer.

Türkei Proteste gegen Verhaftung von Enis Berberoglu in Ankara
Wachsender Unmut: Demonstration der Erdogan-Kritiker im Juni in AnkaraBild: Reuters

Nicht nur ökonomisch, auch politisch fährt Erdogan einen riskanten Kurs. Ein Jahr nach dem Putsch saßen rund 50.000 in Haft, 100.000 Staatsbedienstete verloren ihren Job. Das heißt, dass nicht wenige der 81 Millionen Türken direkt oder indirekt Menschen kennen, die im Gefängnis sitzen oder ohne Arbeit sind. Das könnte sich auch auf die Zustimmungswerte Erdogans auswirken.

Zweifelhafte Beitrittsgespräche

Derzeit sammele Erdogan bei einem Teil der türkischen Bevölkerung weiterhin Punkte, schreibt der Türkei-Experte Günter Seufert von der Berliner "Stiftung Wissenschaft und Politik". Dafür macht er auch die Türkei-Politik der EU verantwortlich. Die wolle zwar von einem Abbruch der Beitrittsgespräche mit der Türkei nicht reden - tue aber auch nichts, um sie voranzutreiben.

Das habe auf viele Türken fatale Auswirkungen: "Es ist die wiederkehrende Enttäuschung solcher Erwartungen, die den gesellschaftlichen Resonanzboden für das fast tägliche Europa-Bashing des türkischen Staatspräsidenten liefert, ganz unabhängig davon, wie gerechtfertigt solche 'Enttäuschungen' angesichts der Politik der türkischen Staatsführung sein mögen."

So ermögliche es die Politik der EU Erdogan jeden Tag aufs Neue, Brüssel Doppelzüngigkeit und Fremdenfeindlichkeit, Eurozentrismus und Islamophobie vorzuwerfen. Damit schweiße er seine Anhängerschaft immer enger zusammen.

Aber auch die Türkei tue nichts, um die Verhandlungen voranzutreiben. Diese dienten Ankara vor allem dazu, weiterhin ohne Einschränkung Zugang zum europäischen Markt zu haben, so Seufert. Außerdem stütze sich Ankara auf die Verhandlungen, um Forderungen etwa nach einer neuen Zollunion oder Visafreiheit durchzusetzen. An eine Mitgliedschaft in der EU oder an eine Demokratisierung der Türkei dächten bei dem Wort Beitrittsverhandlungen in Ankara heute nur wenige.

Die Konsequenzen lägen auf der Hand, so Seufert: "Durch die Verhandlungen hat Ankara, was es von der Union heute am meisten braucht. Und weil das so ist, hat Europa keinen Einfluss auf die Türkei. Erst wenn Brüssel mit Ankara genauso hart verhandelt, wie die Türkei es mit Europa tut, nimmt die Türkei Europa wieder ernst."

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika