Merkel in Auschwitz: "Ich empfinde tiefe Scham"
6. Dezember 2019Und dann steht Angela Merkel, gemeinsam mit dem polnischen Premier Mateus Morawiecki, vor der "Todeswand" des KZ Auschwitz. Tausende Polen wurden in diesem kleinen Hof zwischen zwei Gebäuden von Deutschen hingerichtet. Für viele Polen ist gerade dieser Ort bis heute extrem schmerzhaft.
Der Himmel ist blau, die Dezember-Luft klar. Und bitterkalt. Merkel, in schwarzem, langen Blazer, trägt keine Handschuh, keinen Schal, keine Kopfbedeckung. Mit Morawiecki hält sie inne, 30, 40 Sekunden. Im Weggehen scheint ihr Blick weit weg. Und als sich beide, Premier und Kanzler, noch einmal rumdrehen, innehalten und die Köpfe senken, da bleiben ihre Augen lange geschlossen.
Berge von Brillen
Minuten vorher sah die Kanzlerin die wohl eindrücklichsten, erschütterndsten Zeugnisse des industriellen Tötens, das die Deutschen in Auschwitz-Birkenau betrieben. Da besichtigte sie jene Gebäude, die voll sind mit Lebens-Zeugnissen von Menschen, die in den Tod geschickt wurden. Schiere Berge voller Menschenhaar, viele tausend Brillen, eine Landschaft sich türmender Koffer. Journalisten dürfen Merkel auf dieser Etappe nicht begleiten. Eine sehr kurze Videosequenz der Gedenkstätte zeigt, wie die 65-Jährige an die Scheibe tritt und die Koffer betrachtet. Koffer, auf denen noch heute Aufkleber die Namen der Besitzer verraten.
Gut eine Stunde später sitzt Merkel mit ihrer deutschen Delegation und den polnischen Gastgebern in der sogenannten "Sauna" des Vernichtungslagers Birkenau. Die vor einigen Jahren restaurierte "Sauna" war jener Raum, in dem sich neue Häftlinge entkleiden mussten und reinigen sollten. Nun spricht hier Bogdan Stanislaw Bartnikowski.
Der 87-Jährige teilt mit den Zuhörern seine Erinnerungen an den 13. August 1944. An diesem Tag kam er als zwölfjähriger Junge mit seiner Mutter erstmals in dieses Gebäude. Er berichtet, wie er sich, zwischen vielen Frauen, ausziehen musste. Von seiner Scham, dem Gestank der Angst. "Wir waren Häftlinge, wir waren Untermenschen", sagt er. "Für uns war es der Vorraum zur Hölle."
Die Zeitzeugen
Bartnikowskis Worte gehören zum eindringlichsten an diesem Tag. Und sie erinnern alle im Saal daran, wie wichtig die Zeitzeugen waren und sind. Jene, die Zeugnis ablegen können, und deren Zahl immer kleiner wird. Merkel betont kurz nach Bartnikowski ihren Dank an alle Zeitzeugen, "Dank für den Mut und die Kraft zur Versöhnung".
"Heute hier zu stehen und als Bundeskanzlerin zu Ihnen zu sprechen, fällt mir alles andere als leicht. Ich empfinde tiefe Scham", sagt sie zu Beginn ihrer Rede. Vor den "barbarischen Verbrechen" müsse man "eigentlich verstummen. Und dennoch: Schweigen darf nicht unsere einzige Antwort sein. Wir müssen uns an die Verbrechen erinnern."
Das ist das Anliegen dieses Besuchs. Diesen Ort der Erinnerung an das Grauen zu verstetigen. Sie sagt, Deutschland, der Bund und die Länder, würden der Stiftung Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau weitere 60 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Damit soll das, was an Ruinen und Zeugnissen blieb, durch die Arbeit von Konservatoren der Nachwelt erhalten bleiben.
"Es kann wieder geschehen"
Die Vertreter der polnischen Führung betonen an diesem Tag ihre Verantwortung. "Wir, die Polen und die Republik, erfüllen die Verpflichtung, die Erinnerung wachzuhalten", heißt es in einem verlesenen Grußwort von Präsident Andrzej Duda. "Und wir rufen: Nie wieder, nie wieder darf etwas ähnliches passieren!" Und auch Premier Morawiecki, der vor Merkel spricht, nennt die Verpflichtung seines Staates, "die Erinnerung wachzuhalten, die Erinnerung zu bewahren".
Merkel nennt in ihrer Rede den vollständigen deutschen Titel der Gedenkstätte. "Der Ort Oswieczim liegt in Polen - Auschwitz war ein deutsches, von Deutschen betriebenes Vernichtungslager", sagt Merkel. Aber dann sagt sie auch: "Es ist geschehen, folglich kann es wieder geschehen."
Merkel zitiert ein so bedrängendes Wort des Holocaust-Überlebenden Primo Levi (1919-1987). "Wir alle tragen Verantwortung. Wir dürfen niemals vergessen", sagt die Kanzlerin und wendet sich gegen Schlussstrichdebatten und jede Art von Relativierung der NS-Verbrechen. Sie spricht von besorgniserregendem Rassismus, Zunahme von Hassdelikten, Intoleranz, Menschenfeindlichkeit. Antisemitismus. "Wir dulden keinen Antisemitismus. Gerade Auschwitz mahnt und verpflichtet jeden einzelnen von uns", betont die Kanzlerin.
Mag sein, dass es diese Sorge war, die sie nun, nach 14 Jahren im Amt, nach Auschwitz reisen ließ. Dass die Vergangenheit nicht vergangen ist. Nach Helmut Schmidt (1977) und Helmut Kohl (1989 und 1995) ist sie erst die dritte deutsche Kanzlerin, die Auschwitz besucht. Sie ist die erste, die die Visite nicht mit einem Warschau-Besuch verbindet, sondern nur Auschwitz auf dem Programm hat.
Als die Sonne schon früh am Nachmittag tief im Westen steht, endet Merkels Gang durch die dunkelste deutsche Geschichte. Sie sieht die Ruinen von Gaskammern und Reste eines der großen Krematorien von Birkenau, wandert zu einer restaurierten Baracke. Schließlich steht sie vor einem Eisenbahnwaggon an der Rampe, an der über eine Million Menschen aus dem Zug stiegen und dem Tod ausgeliefert wurden.
Und dann wartet der Konvoi schon wieder auf die Kanzlerin. Merkels Delegation eilt entlang der Gleise. Hinter ihr, auf dem internationalen Mahnmal für alle Opfer von Auschwitz-Birkenau, bleiben einige brennende Kerzen in Schutzgläsern zurück.