Merkel im Herbst
6. September 2018Wieder rumort es in der Union. Und wieder ist es das Streitthema Flüchtlingspolitik, bei dem Kanzlerin Angela Merkel in ihrem Parteilager auf Widerspruch stößt. Wenn sie am Freitag und Samstag wieder auf die außenpolitische Bühne entschwindet, kriselt es daheim krachend weiter.
Dafür sorgt Bundesinnenminister Horst Seehofer. Migration sei die "Mutter aller Probleme", sagte der CSU-Politiker laut Medienberichten zur Eskalation in Chemnitz. Dort habe, so zitiert ihn die "Bild"-Zeitung, an erster Stelle "ein brutales Verbrechen" gestanden. Seehofer äußerte sich hinter verschlossenen Türen zu den CSU-Bundestagsabgeordneten. Der Rahmen einer solchen Klausursitzung, bei der vor der Tür Dutzende Journalisten auf Infos warten, gewährleistet eine Veröffentlichung. Und die "Mutter aller Probleme" zeigt: Der heftige Streit, der Merkels CDU und Seehofers CSU im Juni an den Rand der Scheidung führte, bricht scheppernd wieder auf. Merkel erwiderte auf die Seehofer-Äußerung im Interview mit dem Fernsehsender RTL: "Ich sage das anders. Ich sage, die Migrationsfrage stellt uns vor Herausforderungen." Dabei gebe es Probleme und Erfolge. Die Bundesregierung sei dabei, die Probleme zu lösen.
Hass und Hetzjagd
Für neuen Krach sorgt auch der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). Er streitet mit Merkel um die Bewertung der Geschehnisse von Chemnitz. Zur Erinnerung: Dort hatten nach dem gewaltsamen Tod eines 35-jährigen Deutschen mutmaßlich durch Flüchtlinge tausende Menschen gegen die Präsenz von Ausländern in der Stadt demonstriert, oft rechtspopulistisch, zum Teil offen rechtsextrem, gelegentlich gewalttätig. Und doch sagte Kretschmer am Mittwoch in Dresden: "Es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagd, es gab kein Pogrom in Chemnitz." Stunden später hielt Merkel in Berlin dagegen: Man habe Bilder gesehen, "die sehr klar Hass und damit auch Verfolgung unschuldiger Menschen deutlich gemacht haben".
Beide, Seehofer und Kretschmer, zeigen Merkel: Die Union streitet um die Flüchtlingspolitik und die Öffnung nach Rechts. Es ist der Streit gegen Merkel. Beide demonstrieren ihre Distanz zu Merkel.
...und ein weiterer Konflikt
Nun bricht ein weiterer Konflikt auf. In der Bundestagsfraktion geht es gegen Merkels wichtigsten Vertrauten Volker Kauder. Am 25. September steht die erneute Wahl des Fraktionschefs der Union an. Bislang war so etwas Routine. Der westfälische CDU-Abgeordnete Ralph Brinkhaus, bislang Kauders Stellvertreter, wagt jetzt die Gegenkandidatur. Er will am Montag in der Unionsfraktion seine Pläne für den Fall vorstellen, dass er zum Fraktionschef gewählt wird. Es gehe ihm, sagte er dem Magazin "Focus", um eine "stärkere Unabhängigkeit der Unionsfraktion gegenüber Bundeskanzleramt und CDU-Spitze". Gemeint ist, hier wie da, Merkel.
Das ist eine Kampfansage mit doppelter Sprengkraft. Denn das Amt des Fraktionschefs ist gerade bei CDU/CSU ein großes Amt. Zu den früheren Amtsinhabern zählen Konrad Adenauer, Rainer Barzel, Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble, Friedrich Merz, auch Angela Merkel.
Wer Kauder absägt, der sägt an Merkel
Und Kauder, den Brinkhaus ablösen will, ist Merkels Garant in der Fraktion. Er ist einen Tag länger Fraktionsvorsitzender, als Merkel Kanzlerin ist, bald 13 Jahre. Der Baden-Württemberger Kauder ist Merkels treuer Gefährte in der Fraktion. Er organisierte ihr vielfach Mehrheiten, steckt für sie Kritik ein, nahm abtrünnige Kollegen aus dem eigenen Lager unauffällig ins Gebet. Wer Kauder absägt, sägt an Merkel.
Spricht man über die Ankündigung von Brinkhaus mit CDU-Abgeordneten, ohne sie namentlich zu zitieren, dann dominiert Unverständnis. Der Vorstoß sei dilettantisch eingestielt. Und er ziele auf Merkel. Noch im Frühjahr hätte mancher wohl einen solchen Sturz des Fraktionschefs für möglich gehalten - aber nicht jetzt. Seit dem heftigen, bislang letzten Krach zwischen der CSU-Spitze und dem Merkel-CDU-Lager, der die Unionsfamilie im Juni fast zerrissen hatte, sehne sich eigentlich niemand mehr in der Fraktion nach neuem Streit.
Das Thema Sicherheit
Fragt man die CDU-Abgeordneten, so erleben sie in den Wahlkreisen während der vergangenen Wochen keine große Kritik am Merkel-Kurs. Aber sie benennen quer durch die Regionen doch ein Thema, das immer wieder zur Sprache komme: die innere Sicherheit. Das heiße Eisen, bei dem Merkel zu kämpfen hat.
Der Staat, so schildern Parlamentarier ihre Basis-Eindrücke, müsse dem subjektiven Gefühl von Verunsicherung stärker entgegenwirken, der Rechtsstaat wieder deutlicher erfahrbar sein. Diese Grundstimmung hänge nicht immer mit dem Thema Flüchtlinge zusammen. Sie sei da, und die Partei müsse sie ernst nehmen. Dabei wüssten die Menschen weithin um die wirtschaftlich gute Lage und seien somit zufrieden, so die Abgeordneten.
In dieser positiven Konjunktur sieht auch Manfred Güllner nach wie vor den wichtigsten Punkt der Kanzlerin. "Sie hat sich lange Zeit als ein lebender Rettungsschirm positioniert", sagt der Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa der Deutschen Welle. "Merkel hat nie richtig Euphorie entfachen können. Sie hat ja eigentlich davon gelebt und ihre guten Zustimmungswerte erhalten, dass sie solide Politik macht, dass sie auf Sicht fährt, keine großen Verheißungen macht."
Die Außenpolitikerin
Die ersten Reisen Merkels nach der Sommerpause gingen nach Osteuropa und Afrika. Die Ziele passten zur Sorge um das gemeinsame Europa und zur angestrebten Eingrenzung der Migration. Am Dienstag hatte sie Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu Gast. An diesem Freitag setzt sie ihren Besuch bei Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Marseille fort.
Die Kanzlerin ist in diesen Tagen primär Außenpolitikerin. Und doch sehen die CDU-Parlamentarier in den europäischen Gesprächen Merkels einen Bezug zur Personaldebatte in der Fraktion. Merkel jongliere derzeit Personalentscheidungen, die in den kommenden Jahren anstehen: Der künftige Kommissionspräsident, der Spitzenkandidat der europäischen Konservativen für die Europawahl, der nächste NATO-Generalsekretär, der nächste Chef der Europäischen Zentralbank, ein möglicher nächster EU-Kommissar aus Deutschland.
Die Kanzlerin, sagt ein Parlamentarier, wolle in Europa noch "die Weichen für die kommenden fünf Jahre stellen". Und danach, meint ein anderer, könne mit der Frage der Nachfolge im Kanzleramt auch bald ein Wechsel an der Fraktionsspitze anstehen.