Merkel, Hollande und die offene Gesellschaft
8. Oktober 2015Angela Merkel klatschte. Gerade hatte ihr Nachbar zur Rechten, der französische Staatspräsident François Hollande, eine fulminante Rede gehalten. Eine improvisierte Rede, ganz anders als die vorsichtigen Verlautbarungen, die er sonst von sich gibt. Doch im Europäischen Parlament war ihm jetzt der Geduldsfaden gerissen. Die Chefin des rechtsextremen Front National, Marine Le Pen, hatte ihn und Merkel gerade auf rüde Weise begrüßt: "Dankeschön, Frau Merkel, dass Sie mit Ihrem Vizekanzler und Verwalter der Provinz Frankreich gekommen sind."
Der "Vizekanzler und Verwalter" - das war François Hollande. Und dem riss angesichts dieser Bemerkung der Geduldsfaden. Er riss sich los von seinem Manuskript und ging über in die freie Improvisation. "Der einzig mögliche Weg für diejenigen, die von Europa nicht überzeugt sind, besteht darin, Europa schlichtweg zu verlassen. Das ist schrecklich, aber es hat seine eigene Logik: raus aus Europa, raus aus dem Euro, raus aus Schengen, und sogar, wenn Sie es können, raus aus der Demokratie", fuhr der Präsident die Chefin des FN an. Standing ovations.
Gut möglich, dass Merkel einen derart kämpferischen Hollande noch nicht kennengelernt hatte - wie auch, da solche Auftritte auch für das französische Publikum Seltenheitswert haben. "François Hollande ist niemals so gut wie dann, wenn er aufhört, aus seinen von seinen Mitarbeitern sorgfältig erarbeiteten Aufzeichnungen vorzutragen und wieder Politik macht", kommentierte die Tageszeitung "Libération" die Straßburger Szene. "Es war der große Moment Hollandes."
Europa als Rettungsring?
Und große Momente kann François Hollande derzeit gut brauchen - ebenso wie Angela Merkel. Nicht umsonst, vermutet die Zeitung "Le Figaro" in ihrem Leitartikel, wählten die beiden für ihren gemeinsamen Auftritt einen Termin im Herbst 2015. Ein gutes Vierteljahrhundert zuvor, im November 1989, hatten hier ihre beiden Vorgänger, François Mitterrand und Helmut Kohl, gestanden und die gemeinsame Zukunft Europas nach dem Fall der Mauer beschworen.
Eine große Bühne für ihre Nachfolger also, die die europäischen Appelle von damals auf zeitgemäße Weise unter dem gemeinsamen Stichwort "Flüchtlinge" erneuerten. Nur eines unterscheide das heutige Tandem von dem damaligen, schreibt der "Figaro": Merkel und Hollande trieben die Entwicklung Europas derzeit nicht wirklich voran. Eher suchten sie Schutz hinter der europäischen Idee. "Angesichts fortgesetzter Krisen - Stichworte Finanz-, Griechenland- und Flüchtlingskrise - klammern sie sich an ihr europäisches Credo wie an einen Rettungsring. Außerhalb Europa gibt es für sie kein Heil." Dagegen sei grundsätzlich nichts zu sagen, heißt es im "Figaro" weiter. "Aber mehr als ein politisches oder Zukunftsprojekt ist die Europäische Union für sie vor allem ein intellektueller Bezugsrahmen."
Ein Europa, zwei Sichtweisen
Doch diesen Rahmen, erklärt der Philosoph Luuk van Middelaar, bis 2014 Redenschreiber des ehemaligen EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy, in der Zeitung "Le Monde", nutzten die beiden Nachbarländer traditionell auf ganz unterschiedliche Weise: "Für die Franzosen - General de Gaulle sagte das schon in den 1960er Jahren - ist Europa vor allem ein Hebel, ein Instrument, um die eigene Schwäche zu kaschieren." Deutschland sei aus exakt dem entgegengesetzten Grund auf Europa angewiesen. "Die Deutschen brauchen Europa, um ihre wirtschaftliche und politische Macht zu verhüllen."
Doch trotz entgegengesetzter Interessen arbeiteten Deutschland und Frankreich hervorragend zusammen, ist Nicolas Barotte überzeugt. Der Journalist hat der Beziehung Merkels und Hollandes gerade ein 260 Seiten starkes Buch gewidmet. "François & Angela" heißt es, und die Entscheidung, statt der Nach- die Vornamen der beiden Politiker zu nennen, ist kein Zufall: Sie deutet an, wie viel das derzeitige deutsch-französische Verhältnis den persönlichen Veranlagungen der beiden Politiker verdankt.
Beide, schreibt Barotte, seien Könige des "als ob". Will sagen: Sie verstehen es, ihren Dialog trotz aller Differenzen im Einzelnen nie abreißen zu lassen, sondern im Gegenteil immer mit größtmöglicher Produktivität zu führen - eben so, "als ob" es Differenzen zwischen ihnen gar nicht gäbe. "Ohne sich allzu sehr zu lieben, sind sich diese hochgradig beiden politischen, an ihre Macht sich klammernden Wesen einander ähnlicher als man glauben könnte." Und selbst, wenn sie kein gemeinsames politisches Projekt hätten, schafften beide es doch, den politischen Betrieb zumindest zu managen. Und diese kühle Vernunft sei es auch, die sie aneinanderbinde. "Der Präsident und die Kanzlerin strafen ihre Beobachter lügen. Sie galten als Gegner. Doch sie haben es geschafft, einander zu verstehen."
Ein riskantes Engagement
Wie tief dieses Verständnis reicht, zeigten beide im Europa-Parlament. Beide, Merkel und Hollande, haben sich dem Schicksal der Flüchtlinge verschrieben. Gestern Abend, nach ihrer Straßburger Rede, erklärte Merkel in der Talkshow von Anne Will, eine Schließung der Grenzen käme für sie nicht in Frage. "Es gibt keinen Aufnahmestopp."
In ähnlicher Richtung geht auch François Hollande. Er macht sich in Frankreich gerade für ein Anti-Rassismus-Gesetz stark. "Die Republik kennt keine Rassen, sie kennt keine Hautfarben".
Merkel und Hollande, zwei kühle politische Köpfe, haben mit einem Mal ihr politisches Herz entdeckt. Zur Freude vieler, aber, Wahlergebnisse und Umfragen deuten es an, längst nicht aller Bürger. Einige sind plumpe Rassisten, andere fürchten die Unabwägbarkeiten offener Gesellschaften. Doch mit der offenen Gesellschaft haben die Kanzlerin und der Präsident ihr politisches Schicksal verknüpft. Ein riskanter Einsatz? Was sie von der offenen Gesellschaft halten, werden Franzosen und Deutsche ihre Regenten allerspätestens in zwei Jahren, 2017, wissen lassen. Dann wird gewählt, und zwar die höchste politische Ebene.