Der Schrecken des Menschenhandels in Nigeria
30. Juli 2022Die Träume der 19-jährigen Timipriye sind vor vier Jahren von einem Tag auf den anderen zerplatzt. 2018 verschleppte der jüngere Bruder ihres Vaters sie aus Bayelsa im Süden Nigerias unter dem Vorwand, ihr ein besseres Leben zu ermöglichen. "Eine meiner Tanten kam zu mir und sagte, dass sie mich nach Lagos bringen wolle, wo man mich zur Universität schicken würde", erzählt Timipriye der DW. "Meine Eltern, die sich um viele Kinder kümmern müssen, waren einverstanden."
Ihre Eltern und zehn Geschwister lebten in Armut, ihre zweijährige Nichte war gerade an Unterernährung gestorben. Doch das vermeintlich nette Angebot der Tante war eine Falle. "Ich wurde von meinem Onkel nach Lagos gebracht, nicht um für mich zu sorgen, sondern weil sie Drillinge bekamen", so Timipriye. "Sie brauchten jemanden, der sich um ihre Kinder kümmert."
Keine Seife, kein Telefon
Timipriye ging nie zur Schule. Jeden Tag wacht sie um 3 Uhr morgens auf, um die Drillinge zu baden, sie zu füttern und für die Vorschule vorzubereiten. "Ich bin in dem Gebäude eingesperrt. Ich schlafe oft erst gegen 1 Uhr oder 2 Uhr", erzählt sie. Erledigt sie ihre Aufgaben nicht schnell genug, drohen Strafen: Als sie einmal nicht schnell genug aus dem Auto ausstieg, habe ihre Tante ihr die Autotür auf die Finger geschlagen.
Oft badet Timipriye nur mit Wasser und besitzt nur ein Paar Unterhosen, die sie jeden Abend mit verstecktem Waschmittel wäscht. "Jeden Abend weine ich vor dem Einschlafen. Ich kann nicht einmal meine Eltern anrufen, weil ich kein Telefon habe. Selbst wenn ich eins hätte, habe ich kein Geld für Gesprächszeit und darf nicht telefonieren", erzählt sie der DW.
Mädchen sind häufig Opfer
Timipriyes Geschichte ist kein Einzelfall: Zwischen 2016 und 2019 wurden in Subsahara-Afrika nach Angaben des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung rund 4800 Fälle von Menschenhandel registriert, über die Hälfte der Fälle davon Kinder allein in Westafrika.
Sie werden zu vielen Zwecken gehandelt, von häuslichen Diensten wie bei Timipriye bis hin zu sexueller Ausbeutung, Einsatz als Kindersoldaten, Organentnahme und sogar erzwungener Leihmutterschaft in "Babyfarmen", wo sie geschwängert und zur Entbindung gezwungen werden. "Ausbeutung ist der gemeinsame Nenner des Menschenhandels", so Daniel Atokolo, Direktor für Ermittlungen und Überwachung bei der Nationalen Agentur für das Verbot des Menschenhandels (NAPTIP) in Abuja.
Die meisten Opfer des Kinderhandels in Nigeria sind Mädchen im Alter von zwölf bis 17 Jahren. Nach Angaben der nigerianischen Behörde für das Verbot des Menschenhandels werden schätzungsweise nur zwei Prozent der Opfer des Menschenhandels außer Landes gebracht.
Internationale Organisationen sind sich zwar weitgehend einig, dass Nigeria seine Anstrengungen zur Bekämpfung des Menschenhandels verstärkt hat, doch das Ausmaß des Problems ist immer noch enorm. Schätzungen zufolge lebten 2018 in Nigeria fast 1,4 Millionen Menschen in moderner Sklaverei, so die Walk Free Foundation, eine internationale Menschenrechtsgruppe, die einen globalen Sklaverei-Index veröffentlicht. Die Täter hingegen werden nur selten gefasst. Ein Bericht der US-Regierung erfasste für das Jahr 2021 nur 36 Verurteilungen von Menschenhändlern in Nigeria.
Vertraute Täter
Kommt die Nacht, wächst Timipriyes Angst. Schuld daran ist ihr Onkel. "Mein Onkel versucht, mit mir zu schlafen, er kommt nachts und klopft an meine Tür", erzählt sie der DW. "Und wenn ich versuche, das zu verhindern, indem ich meine Tür von innen abschließe, fängt er an, mich schlecht zu behandeln. Er sagt, ich solle niemals die Tür abschließen, wenn ich schlafe." Timipriye wird unruhig, während sie erzählt. "Mein Onkel überwacht mich, wenn ich bade, und wenn er weiß, dass ich mit dem Baden fertig bin, stürmt er ins Zimmer, ohne anzuklopfen."
Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration sind in etwa zwei Dritteln der Fälle von Kinderhandel weltweit Familienmitglieder und Freunde in der Anfangsphase involviert. Sie planen, die Opfer auszubeuten, in der Regel, um materielle Vorteile zu erlangen.
Wie Timipriye wurde auch Ivie 2018 von jemandem verschleppt, der ihrer Familie gut bekannt war. Eine Bekannte versprach der damals abenteuerlustigen 15-Jährigen, ihre eine Ausbildung in Europa zu ermöglichen und für sie einen Job als Babysitterin zu finden, damit sie während der Schulzeit etwas verdienen könnte.
Doch es gab eine Bedingung: Sie sollte es niemandem erzählen, auch nicht ihren Eltern. Ivie brach die Sekundarschule ohne das Wissen ihrer Eltern ab, während ihre Bekannte ihren Pass und andere für die Reise notwendige Dinge vorbereitete.
Vergewaltigung und Sexarbeit
Schließlich flog Ivie aus Nigeria aus - und der Albtraum begann. Am ersten Zwischenstopp in Mali sagte die Bekannte zu Ivie, dass sie Geld für die Weiterreise verdienen müsse. Und die einzige verfügbare Arbeit war Sexarbeit. Ivie war noch Jungfrau. "Anfangs dachte sie, sie könnte es hinauszögern, aber nach zwei Tagen ohne Essen wusste sie, dass sie keine andere Wahl hatte. Sie musste sich fügen", so Ivies derzeitiger Vormund und Betreuerin Felicia (Name geändert) gegenüber der DW.
Die Bekannte brachte einen Mann dazu, Ivie zu vergewaltigen, etwas, das die Teenagerin schwer traumatisierte. "Ivie ist ein junges Mädchen, das es im Leben zu etwas bringen wollte; sie wollte ihr Schicksal verbessern. Sie dachte, sie würde in Europa zur Schule gehen und Babysitterin werden", so Felicia. "Sie hätte nie gedacht, dass sie eine kommerzielle Sexarbeiterin werden würde."
Ivie erreichte Italien, und lernte, dass sie es nicht nur mit der Bekannten zu tun hatte, sondern mit einem organisierten Kartell. Außer ihr arbeiteten noch zehn andere Mädchen als Sexarbeiterinnen für den Ring. Doch Ivie gelang die Flucht: Sie vertraute sich einem Kunden an, der sie zu katholischen Nonnen brachte, die ihr halfen, nach Nigeria zurückzukehren.
"Vertrauen Sie Ihr Kind niemandem an"
Babatunde Fadipe, Psychiater am Lagos University Teaching Hospital (LUTH), erklärt, dass Opfer von Menschenhandel oft noch Jahre danach mit emotionalen und psychischen Problemen kämpfen. Darunter fallen psychische Erkrankungen wie posttraumatische Belastungsstörungen, Angst, Wut, Angstzustände und Depressionen. Viele Überlebende bleiben damit allein, denn in afrikanischen Ländern fehlt es oft an Psychologen, Psychiatern und finanziellen Mitteln.
Timipriye fürchtet sich zu sehr, die Familie ihres Onkels zu verlassen. Er ist Anwalt und eine mächtige Person, sagt sie. Sie traf sich heimlich mit DW im Haus eines Nachbarn, während ihre Tante und ihr Onkel weg waren, und nahm den Mut zusammen, ihre Geschichte zu erzählen, in der Hoffnung, andere Kinder vor dem Menschenhandel zu bewahren.
Sie hat auch eine Botschaft für alle Eltern: "Vertrauen Sie Ihr Kind niemandem an!"
Adaptiert aus dem Englischen von Silja Fröhlich.
Anmerkung der Redaktion: Details über Timipriye und Ivie werden in diesem Artikel zu ihrem Schutz nicht veröffentlicht.