Menschen in Kiew: Zwischen Anspannung und Machtlosigkeit
1. März 2022Es ist Montag, Tag fünf des massiven Angriffskriegs, den Russland gegen die Ukraine führt. Den Verteidigern Kiews ist es offenbar gelungen, die russischen Angreifer in die Außenbezirke und Vororte der ukrainischen Hauptstadt zurückzudrängen. Innerhalb der Stadtgrenzen sucht das ukrainische Militär nach Saboteuren.
Für die Zivilbevölkerung geht es nicht nur wegen der Einschläge mittlerweile um das elementare Überleben: Zum ersten Mal seit Jahrzehnten erleben die Menschen in Kiew einen Mangel an Brot, weiteren Grundnahrungsmitteln und Medikamenten.
Warten auf Alltäglichkeiten
Am Montagmorgen waren auf den Straßen Kiews viel mehr Menschen und Autos zu sehen als an den Tagen zuvor. Nach anderthalb Tagen Ausgangssperre mussten viele ihre Wohnungen oder die Luftschutzbunkern, in denen sie festsaßen, verlassen, um ihre Vorräte an Nahrungsmitteln, Trinkwasser und Medikamenten aufzufüllen.
Die Stadtverwaltung versichert, die Lieferung von Lebensmitteln an Geschäfte zu organisieren, aber Mangel war in der ganzen Hauptstadt zu spüren. Im Zentrum von Kiew müssen sie mehr als zwei Stunden vor den Supermärkten anstehen. Menschen, die herauskommen, berichten, Brot gebe es keines, Gemüse und Obst auch nicht, dafür aber Milchprodukte mit langer Haltbarkeit. Drinnen bestätigt sich das: Auch etwa Kuchen, Gebäck und Tabakwaren sind noch da sowie Spirituosen, die aber nur tagsüber verkauft werden dürfen.
Die meisten Menschen begegnen der Enttäuschung mit Verständnis. Doch sie machen sich große Sorgen, wie es mit der Lebensmittelversorgung in der Drei-Millionen-Metropole weitergehen soll. Der nächstgelegene Agrarmarkt wurde schon nach dem ersten Beschuss der Außenbezirke von Kiew am 24. Februar geschlossen.
Etwas kürzer sind die Schlangen vor den Apotheken. Doch auch warten 20 bis 30 Personen vor der Tür. Eine ältere Dame ist sichtlich verängstigt: "Warum gelten Apotheken nicht als Einrichtungen der kritischen Infrastruktur", fragt die Rentnerin. Sie sei Diabetikerin und andere Familienangehörige würden an Bluthochdruck leiden. "Meine Schwester ist herzkrank, mein Schwiegersohn ist Epileptiker. Die Apotheken müssen doch gerade jetzt rund um die Uhr geöffnet bleiben!"
Verlängerte Ausgangssperren
Bisher ist es der Kiewer Stadtverwaltung gelungen, eine stabile Arbeit der kommunalen Dienste weitgehend aufrecht zu erhalten: Strom, Heizung und Warmwasser sind verfügbar - mit Ausnahme der Stadtviertel, in denen es Gefechte gab. Die Glasfasernetze und auch das mobile Internet aller ukrainischen Betreiber funktionieren stabil. Ein Problem ist jedoch, dass der Müll in der Stadt praktisch nicht abtransportiert werden kann. Auch der öffentliche Nahverkehr läuft nur unregelmäßig.
Am fünften Tag der Verteidigung der Hauptstadt haben die lokalen Behörden in Absprache mit dem Militärkommandanten die Dauer der nächtlichen Ausgangssperre verlängert. Sie beginnt jetzt nicht mehr erst um 22.00 Uhr, sondern schon um 20.00 Uhr und dauert bis 8.00 Uhr morgens des nächsten Tages. Ferner ist die Nutzung von Fahrspuren des öffentlichen Nahverkehrs für Privatfahrzeuge strengstens untersagt. Nur Frachtfahrzeuge, öffentliche Verkehrsmittel, Krankenwagen sowie das Militär und die Polizei dürfen sie nutzen:.
"Autos, die sich auf diesen Spuren bewegen, können als Fahrzeuge von Sabotage- und Aufklärungstrupps ins Visier geraten", warnen die Behörden und erinnern die Menschen daran, dass derzeit das Kriegsrecht gilt. Gleichzeitig fordern sie die Menschen dazu auf, ruhig zu bleiben und sich nicht in Gefahr zu bringen.
Grund für die Verschärfung der Maßnahmen sind die Gefahr, die von Sabotagetrupps ausgeht, sowie erste, aber noch sehr seltene Plünderungen. Das ukrainische Militär warnt in sozialen Netzwerken davor, dass Saboteure sich als ukrainische Militärs verkleiden oder in ziviler Kleidung unterwegs sind. Sie würden sich mit Krankenwagen oder Zivilfahrzeugen mit ukrainischen Nummernschildern fortbewegen. Veröffentlicht wurde eine Liste der von russischen Saboteuren erbeuteten Fahrzeuge - insgesamt sind es fast 30. Bei Verdachtsfällen sollen die Menschen Armee und Behörden informieren.
Nächte im Untergrund
Zu den wenigen öffentlichen Ort, an denen man sich während der Ausgangssperre aufhalten darf gehören die Metrostationen. Vier davon sind als Luftschutzbunker ausgewiesen. Aber auch in anderen unterirdischen Haltestellen liegen die Menschen auf den Bahnsteigen und, wenn dort nicht mehr genügend Platz ist, im Eingangsbereich der Bahnhöfe.
Sie kommen abends, vor Beginn der Ausgangssperre, um dort die Nacht zu verbringen: Erwachsene, Kinder, manche bringen auch ihre Haustiere mit. Andere übernachten in den Kellern oder Tiefgaragen ihrer Wohnhäuser. Die nötigen Rationen an Nahrung und Wasser nehmen sie mit, wobei es in den Metrostationen auch Brunnen mit Trinkwasser gibt, auch Toiletten sind vorhanden. Dort unten, tief unter der Erde sind die Explosionen und Sirenen nicht zu hören.
Am Morgen verlassen die Menschen die Stationen und eilen nach Hause, um ihre Lebensmittelvorräte aufzufüllen, durchzuatmen und etwas zu entspannen. Auch tagsüber gibt es immer wieder Luftalarm, doch manche beachten ihn kaum noch: "Die Sirenen heulen oft, aber Entwarnung wird nicht immer gegeben. Ich kann nicht immer hin und her rennen", sagt ein Mann mittleren Alters. Er spielt gerade mit seinen zwei Kindern in einem Kiewer Hinterhof, als gerade wieder die Sirenen heulen.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk