Melancholie und Destruktion: Lars von Trier
29. September 2011Was als Pressekonferenz begann, endete bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes mit einem Eklat. Der dänische Regisseur Lars von Trier hatte Mitgefühl für den im Bunker verschanzten Hitler geäußert und sich selbst als Nazi bezeichnet. Es sollte ein Witz sein. Doch von der Festivalleitung mochte niemand darüber lachen - Lars von Trier wurde zur persona non grata erklärt. Dabei ging völlig unter, dass sein neuer Film "Melancholia" ein großartiges Werk ist.
Die Dinge immer wieder neu betrachten
Lars von Trier prägt seit rund 30 Jahren maßgeblich das europäische Autorenkino. Als er sich Anfang September anlässlich einer Retrospektive seines Gesamtwerks auf das Podium im Babylon-Kino in Berlin setzt, ist der Saal überfüllt und die Erwartungen an das enfant terrible des Kinos hoch. Lars von Trier lässt sich davon kaum beeindrucken.
Seine Filmliebe wird schon früh geweckt, als ihm seine Mutter eine Super-8-Kamera schenkt, erzählt der 1956 in Kopenhagen geborene von Trier. Er filmt sofort alles Mögliche, zunächst allerdings nur, weil ihn die Technik fasziniert. Später kann man seine Filme auch als Verarbeitung eigener Erlebnisse interpretieren. Sein Elternhaus ist kommunistisch geprägt, das Verhältnis zu seiner Mutter schwierig. Und dass sein jüdischer Vater, nicht sein leiblicher ist, erfährt Lars von Trier erst am Sterbebett der Mutter. Väterlicherseits stammt er aus einer deutschen Musikerfamilie. Vielleicht lässt sich so auch sein Interesse an Richard Wagner und deutscher Geschichte interpretieren. Und seine Lust zu provozieren: "Ich stamme aus einer Zeit, da zumindest in Dänemark eine Provokation grundsätzlich als gut angesehen wurde. Sie löst einen Denkprozess aus. Du betrachtest die Dinge neu. Vielleicht wirst du wütend, vielleicht fühlst du dich toll. Auf jeden Fall kommt etwas in Bewegung."
Radikalität und Depression
Bei seinen Filmen fällt auf, dass es sich größtenteils um Dramen handelt. Einige davon sind stark verstörend, zum Beispiel sein letztes Werk "Antichrist", das von einem Paar handelt, welches nach dem Tod des Sohnes in einem Waldhaus in Agonie, Aggression, Sex und Selbstverstümmelung verfällt. Die Radikalität, mit der Lars von Trier seine Filme inszeniert, hängt sicherlich auch damit zusammen, dass der Filmemacher seit seiner Kindheit an Depressionen leidet.
So ist es kein Wunder, dass in "Melancholia" die Protagonistin Justine (überzeugend von Kirsten Dunst gespielt) in einen ähnlichen Zustand verfällt. Die Hinweise dazu kommen früh: Schon auf dem Weg zum Anwesen ihrer Schwester Claire, wo die Hochzeitsfeier im pompösen Stil gefeiert werden soll, bleibt die Stretchlimousine auf der engen Straße hängen. Und als Justine und ihr Mann Michael (Alexander Skarsgard) schließlich mit Verspätung ankommen, spricht ihre Mutter (Charlotte Rampling) einen rüden Toast aus: "Ich war nicht in der Kirche. Ich glaube eben so wenig an die Ehe. Bis dass der Tod uns scheidet! Auf immer und ewig! Justine und Michael, lasst euch von mir eins sagen! Genießt es, so lange es dauert! Ich persönlich hasse Hochzeiten".
Alter Ego in Melancholia
Während im Weltraum der Planet "Melancholia" auf die Erde rast und den Untergang bringt, sorgt Justine dafür, dass ihre Ehe scheitert, bevor sie beginnt. Denn noch während des Festes verfällt sie in Depressionen. Lars von Trier gibt offen zu, dass Justine sein Alter Ego darstellt: "Ich kann nur über mich selbst schreiben. Und wenn Justine depressiv wird, ist das eigentlich eine Beschreibung meines Zustands".
Von 1976 bis 1982 studiert Lars von Trier an der Universität Kopenhagen Film. Eine Hochschule, in der "eigentlich alles verboten war" - so von Trier. Nicht einmal das "von", das er sich in seinem Namen zugelegt hat, darf er benutzen. In seinem Abschlussfilm "Images of a Relief" thematisiert der junge Filmemacher den Nationalsozialismus. Dann folgt seine "Europa-Trilogie" ("Element of Crime", "Epidemic" und "Europa"), in der sich von Trier mit der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert auseinandersetzt. Aber auch Fragen nach Gott, Religion und dem Niedergang des Abendlands stellt er. Der Einfluss von Filmemachern wie Ingmar Bergman oder Carl Theodor Dreyer wird sichtbar.
Dogma 95 - neue europäische Filmbewegung
Gemeinsam mit Thomas Vinterberg und anderen stellt Lars von Trier 1995 in Cannes das Dogma-Manifest vor. Die Bewegung lehnt den Einsatz von technischen Effekten beim Filmemachen ab (keine Filmmusik, keine Kamerastative, keine Farbfilter…), und wendet sich gegen die Entfremdung des Kinos. Zwei Jahre später dreht er mit "Idioten" seinen ersten Dogma-Film. Darin leben einige Leuten in der dänischen Provinz zurückgezogenen in einem Haus. Sie bilden eine Art Gegengesellschaft, nehmen aber Kontakt mit anderen Bürgern auf, wobei sie vorgeben, geistig behindert zu sein. Die Geschichte über gesellschaftliche Außenseiter steht exemplarische für Lars von Triers Oeuvre.
Etwa zehn Jahre prägt Dogma das europäische Kino maßgeblich, ehe Lars von Trier das Manifest für obsolet erklärt. In dieser Zeit erscheinen unter dem Dogma-95-Label insgesamt 39 Filme aus verschiedenen Ländern.
Frauen stehen im Zentrum
Die Filme, die Lars von Trier seit Mitte der 1990er Jahre dreht, handeln oft von Menschen in Opferrollen. In "Breaking the waves" glaubt eine junge Frau nach dem Unfall ihres Mannes, dass sie Schuld an seiner Querschnittslähmung ist. Sie hatte Gott darum gebeten, dass ihr Mann immer bei ihr sein möge. Der Film wird in Cannes mit dem Jury-Preis ausgezeichnet. Mit "Dancer in the dark" gewinnt Lars von Trier 2000 die Goldene Palme. In dem Drama spielt die isländische Sängerin Björk eine einfache junge Frau, die für ihren Sohn kämpft, der zu erblinden droht. Auch hier zeigt sich, dass der Regisseur vornehmlich Geschichten von tragischen Frauengestalten erzählt "deren Liebe nicht davon abhängt, wie sie vom Schicksal oder von den Menschen behandelt werden."
Allerdings ist er auch in der Lage, den Wandel vom Opfer zum Täter zu zeigen: 2003 beginnt Lars von Trier seine USA-Trilogie mit dem Film "Dogville". Darin spielt Nicole Kidman, die Tochter eines Gangsterbosses, die sich darum bemüht, aus der Kriminalität auszubrechen. In einem unbekannten Dorf wagt sie einen Neuanfang, wird aber nur ausgebeutet und erniedrigt - ehe sie sich rächt. Der Regisseur lässt seine Protagonisten dabei auf einer Bühne spielen, auf der Straßen und Häuser nur aufgezeichnet sind - eine völlige Bildreduktion.
Noch nie ging die Erde so schön unter
Ganz im Gegensatz dazu zelebriert Lars von Trier in "Melancholia" das Ende der Welt als visuelle Pracht. Während Justines Schwester Claire auf die im wahrsten Sinne des Wortes immer größer werdende Bedrohung aus dem All mit Panik reagiert, wird die depressive Justine immer ruhiger, erlebt das nahende Ende der Welt wie eine Befreiung. Vor allem mit dem Einsatz der Musik von Richard Wagner (Tristan und Isolde) verleiht Lars von Trier diesem Szenario eine betörend romantische Wirkung. Allerdings räumt der Filmemacher ein, dass "Melancholia" vor allem ein Film ist, mit dem er seine eigenen Ängste verarbeitet hat.
Autor: Bernd Sobolla
Redaktion: Jochen Kürten