Kosky verspricht "jüdischen Humor"
25. Juli 2017Dieses Jahr eröffneten die Bayreuther Festspiele am 25. Juli mit einer recht gewagten Inszenierung. Richard Wagners Oper "Die Meistersinger von Nürnberg" wurde in der Vergangenheit schon allzu oft falsch verstanden oder falsch interpretiert. Im Dritten Reich wurde mit ihr Propaganda gemacht. Für die Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth ist diese Oper bislang meistens von Wagners Nachkommen umgesetzt worden. Doch nun hat man diese Aufgabe einem auswärtigen Regisseur anvertraut, dem Australier Barrie Kosky, der jüdische Wurzeln hat.
DW: Wie sind Sie mit den "Meistersingern" zurecht gekommen?
Barrie Kosky: Als Katharina Wagner mich fragte, sagte ich: "Nein, ich werde dieses Werk nicht inszenieren. Das ist einfach nichts für mich." Dann entgegnete sie: "Nehmen Sie sich Zeit!" Im Laufe dieser Zeit machten ich und mein Team einige Entdeckungen und wir entwickelten ein paar Ideen. Ich bin wie ein Stier. Wenn ich einmal Blut geleckt habe, kann ich die Arbeit nicht mehr abbrechen. Mir wurde plötzlich klar, dass ich mit diesem Stück sogar mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen könnte.
Wir entdeckten, dass Wagner sich sehr mit der zentralen Figur Hans Sachs identifizierte, mehr als mit anderen Figuren. In ihm schuf er eine Art Superego, eine Projektion davon, wie er wollte, dass die Welt ihn sehen würde. Er unterschrieb sogar Briefe an seine Frau Cosima mit "Sachs" oder "Dein Hans".
Die wichtige Entdeckung für mich war der atemberaubende Narzissmus in diesem Werk. Die beiden Charaktere Sachs und Walther sind zwar auf dem Papier zwei verschiedene Personen, aber in Wirklichkeit ist es Wagner höchstpersönlich, der zwei verschiedene Rollen spielt. Hans Sachs ist der Prophet, der in der Wüste schreit und ankündigt, dass eines Tages der große Retter der deutschen Kultur kommen wird. Und dann, große Überraschung, kommt der Messias tatsächlich. Und ratet mal, wer das ist? Das bin ich, Deutschland, Richard Wagner: Walther! Er sieht sich selbst als der Prophet und der Messias, was höchst interessant ist. Genau das hat mein Interesse geweckt.
Wie fühlt es sich an, der erste jüdische Regisseur zu sein, der in Bayreuth die "Meistersinger" inszeniert?
Ich laufe ja nicht mit einem Abzeichen herum, auf dem "Ich bin Jude" draufsteht. Aber trotzdem interessiere ich mich natürlich für europäische Projektionen von Antisemitismus auf das Theater. Und ich versuche, ein bisschen jüdischen Humor in das Stück zu bringen.
Hier muss man auch ein paar Traditionen beachten, ohne aus dem Ort gleich einen heiligen Tempel oder eine Kultstätte zu machen. Man kann nicht einfach sagen: Ach, ist das alles furchtbar wegen des Dritten Reichs, wegen Hitler und so weiter. Man kann nicht diesen ganzen Ort dämonisieren. Man sollte stattdessen die Tatsache wertschätzen, dass Wagner selbst dieses Theater gebaut hat, um das Musiktheater neu zu beleben.
Gleichzeitig muss man auch wirklich, wirklich ehrlich sein gegenüber all dem, was hier während des Dritten Reichs passierte. Man muss verstehen, dass viele Künstler, die hier gesungen, dirigiert oder gespielt haben, in Konzentrationslager verschleppt wurden oder ins Exil gingen.
Einige Leute haben mich gefragt: Wie haben Sie das überlebt? Ich antwortete, dass ich manchmal das Bedürfnis verspürte, mit Knoblauch in der einen Hand und einem Davidstern in der anderen herumzulaufen und dabei zu sagen: Haut ab, ihr bösen Geister, haut ab! Und irgendwie sollte dieser Ort ja auch exorziert werden. Aber dann ist es eben doch nur ein Theater.
Im Gegensatz zu den Festspielen der vergangenen Jahre, verliefen die Vorbereitungen auf diese Festspiele ohne Skandal…
Niemand hier trägt Hakenkreuz-Tattoos. Und wenn jemand eins hätte, dann hätte ich das in meine Produktion mit aufgenommen. Und weil es ja um die "Meistersinger" geht, haben wir eine Art verrückte Komödie damit machen wollen. Ich habe versucht, eine Art subversive Leichtigkeit da hineinzubringen. Auf der anderen Seite habe ich das alles mit Elementen aus Wagners Leben und dem 20. Jahrhundert angereichert, ohne damit dem Publikum vor den Kopf zu stoßen.
Im 19. Jahrhundert wurde Nürnberg als ein deutsches Jerusalem gesehen, eine deutsche Utopie. Die Stadt wurde von Händlern kontrolliert, alles war schön und alle waren glücklich. Historischer Unsinn. Aber für Wagner war dies eine erträumte Utopie, in der alles perfekt war, abgesehen von der Figur Beckmesser.
Das dritte Element mit dem wir spielten, ist der Prozess. Viele von Wagners Opern handeln ja von Prozessen, darunter "Tannhäuser", "Lohengrin" und irgendwie auch "Parsifal". Und bei den "Meistersingern" geht es definitiv genau darum. Wer urteilt, was ein gutes Lied oder ein schlechtes Lied ist, wer entscheidet, wer in die Gemeinschaft hinein gehört und wer nicht, und wer ist der Richter über die nationale Identität? In diesem Sinne sind Urteile, Verfahren und Prozesse ein zentraler Teil der Geschichte.
Da wurde mir folgendes klar: Welche andere Stadt in der Welt hat sich innerhalb von nur 100 Jahren von einer deutschen Utopie in eine deutsche Dystopie verwandelt? Zuerst gab es dieses erträumte fantastische Paradies, Nürnberg im 19. Jahrhundert. Dann gib es die Nürnberger Rassengesetze, wonach entschieden wurde, wer deutsch ist und wer nicht. Dann wurden hier Reichsparteitage abgehalten. Und Wagners "Meistersinger" waren so eine Art Soundtrack des Dritten Reiches.
Und was bleibt von alledem? Was hat uns dieses Stück heute zu sagen?
Ich glaube nicht, dass es meine Aufgabe als Regisseur ist, einem deutschen Publikum vorzuschreiben, was sie zu denken haben und was sie mit ihrer Kultur machen sollen. Das liegt nicht in meiner Verantwortung. Und es wäre außerdem beleidigend.
Damals, im Dritten Reich, drehte sich der Chor bei der berühmten Passage "Wacht auf!" zu Hitlers Loge hin und sang direkt in seine Richtung. Ich weiß schon, was ich fühle, wenn ich diese Passage höre. Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Auch andere Menschen könnten eine Gänsehaut bekommen, aber aus anderen Gründen. Ich hoffe nur, dass ich viele Assoziationen mit dem Stück hergestellt habe.
Ich glaube, die Figur Beckmesser ist Wagners Furcht vor assimilierten Juden wie Heine, Mendelssohn und Meyerbeer. Aber es geht hier nicht nur um Wagners Probleme mit Juden. Für Wagner ist Beckmesser die Personifizierung von allen, die gehasst wurden - die Franzosen, die Italiener und vor allem Musikkritiker.
Vergessen Sie nicht, dass er diesen Charakter zunächst Hans-Lick nenen wollte, was für den Kritiker aus Wien, Eduard Hanslick, gestanden hätte. Jedoch ist die Seele dieses Charakters jüdisch. Allerdings behandele ich nicht direkt den jüdischen Aspekt, sondern parodiere stattdessen den Antisemitismus. Beckmesser hat die Rolle eines Sündenbocks für jedes nur erdenkliche Trauma des Volkes. In meiner Produktion machen sie aus ihm den Juden.
Wie sehen Sie die antisemitischen Tiraden, die Wagner schrieb? Wie beeinflussen sie eine Interpretation seiner Opern?
Ich glaube, dass Wagner sich seine eigene Hölle geschaffen hat. Er befindet sich ständig im Zeugenstand, wo er rechtfertigen muss, was er gesagt hat und was mit seiner Musik passiert ist. Das ist die Position, in der sich Wagner befindet, und ich bin mir nicht sicher, ob er da wieder raus kommt.
Natürlich ist er tot, und das sind alles nur Punkte auf weißen Seiten. Aber ist das wirklich so? Wagner schrieb und sagte eine Menge Dinge. Können wir diese Dinge ständig von diesen schwarzen und weißen Punkten auf dem Papier trennen?
Das Werk hat auch leichtere Momente, und ich will diese fünf Stunden der "Meistersinger" auch nicht ohne Lacher inszenieren. Das ist einer meiner größten Wünsche - dass die Leute tatsächlich mal lachen, vor allem im ersten Akt. Oft sitzt man ja da und stöhnt: Oh Gott, wann ist das endlich vorbei!
Auf der anderen Seite muss man sich fragen, wie man das auf die leichte Schulter nehmen kann, wenn die Figur am Ende des Stücks sagt: Hüte dich vor ausländischen Einflüssen. Wir müssen ehren, was deutsch und wahr ist!
Was soll das heißen? Genau dieses Stück wurde vom Dritten Reich als die Quintessenz deutscher Kunst dargestellt! Wenn Hans Sachs am Ende singt, dann ist das Wagner, der sagt: Hütet euch vor französischer und italienischer Musik! Wir müssen aufhören, Wagner als Sprachrohr der deutschen Tourismusindustrie zu benutzen. Das ist wirklich sehr wichtig.
Barrie Kosky ist Intendant und Bühnendirektor von Berlins "Komischer Oper", die nach Koskys erster Saison dort 2013 von dem deutschen Magazin "Opernwelt" zur Oper des Jahres ernannt wurde.