Große Lager gleich stark
19. Mai 2014Der Trend ist seit Wochen stabil: Die beiden bislang größten politischen Kräfte im Europäischen Parlament liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen und der Abstand wird kleiner. Die konservative Europäische Volkspartei (EVP) liegt bei der Sitzzahl mit 212 nur noch drei Sitze vor den Sozialisten mit 209 Abgeordneten. Das sind die Zahlen, die das europäische Meinungsforschungsprojekt PollWatch2014 kürzlich in Brüssel veröffentlicht hat.
Eine Mehrheit der insgesamt 751 Sitze erreiche keiner der beiden großen Blöcke, sagt der Direktor von "PollWatch2014", Doru Frantescu: "Das nächste Parlament wird wesentlich polarisierter sein. Wir werden mehr Extreme auf dem rechten und dem linken Flügel sehen. Die Gruppen in der Mitte werden kleiner werden. Das hat Auswirkungen auf die praktische Politik und die Bildung von Koalitionen." "PollWatch2014" ist ein Ableger der Nichtregierungsorganisation "VoteWatch", die das Abstimmungsverhalten der EU-Parlamentarier dokumentiert und mögliche Beeinflussung durch Lobby-Gruppen aufzeigen will.
Extreme Nationalisten könnten vierstärkste Fraktion werden
Die europaskeptischen oder gar europafeindlichen Parteien auf dem extrem rechten Flügel werden stärker sein als jemals zuvor, sagen die Meinungsforscher von "PollWatch2014" voraus. Sie könnten eine Fraktion mit um die 60 Sitze bilden. An Bedeutung verlieren werden die Grünen und die Liberalen. Die extreme Linke wird ihre Fraktionsstärke aller Voraussicht nach auf 50 verdoppeln. Dafür sorgen die linken Protestparteien aus Südeuropa, die durch die Euro-Krise gewachsen sind: Syriza in Griechenland, Beppe Grillo in Italien und die Linke in Spanien.
Die letzte Umfrage wird "PollWatch2014" am Mittwoch (21.05.2014), dem Tag vor Beginn der Europawahl, veröffentlichen. Viel wird sich wahrscheinlich nicht mehr ändern, glaubt Direktor Frantescu. Die Liste der Länder mit den meisten Euro-Skeptikern führen nach seiner Meinung Frankreich, Großbritannien und die Niederlande an, wo die etablierten Parteien abgehängt werden. "Im Moment sieht es so aus, dass der Front National in Frankreich den ersten Platz belegen kann. Das sieht man auch in Großbritannien, wo die Unabhängigkeitspartei vor Labour und den anderen rangiert. Da hat man also schon zwei sehr große euroskeptische Delegationen aus großen Ländern."
Auch in den Niederlanden könne die rechte Partei für die Freiheit noch erste Kraft vor den Regierungsparteien werden, glaubt Doru Frantescu. Wo sich die gemäßigten deutschen Euro-Gegner von der "Alternative für Deutschland" (AfD) einsortieren lassen, können die Wahlforscher noch nicht genau sagen. Sie werden wohl in keine der extremen Gruppen gehen und auch nur eine Handvoll Mandate erringen. Die AfD könnte zusammen mit flämischen Nationalisten in der Gruppe "Europäische Konservative und Refomer" landen. Diese Gruppe bringt es in den Umfragen mit Abgeordneten aus sieben Ländern auf 53 Sitze.
Nur zwei gesamteuropäische Meinungsforscher
"PollWatch2014" fasst die aktuellen Meinungsumfragen aus allen 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zusammen, gewichtet die Ergebnisse und ordnet die Abgeordneten den politischen Gruppen oder Fraktionen zu. Da es in einigen Mitgliedsländern sehr unterschiedliche Meinungsumfragen, je nach Auftraggeber, gibt, errechnet "PollWatch2014" einen Durchschnittswert, um die Fehlermargen zu verkleinern. Eigene Meinungsumfragen führen die wenigen Mitarbeiter von "PollWatch2014" nicht durch.
Europaweit gibt es außer der Nichtregierungsorganisation "PollWatch2014" nur eine weitere Instiution, die eine Vorhersage für den Ausgang der Parlamentswahl macht - das Parlament selbst. Die Verwaltung des Europäischen Parlaments hat ein eigenes Meinungsforschungsinstitut beauftragt. Die Zahlen des Parlaments unterscheiden sich nur marginal von denen von "PollWatch2014". Auch "PollWatch2014" erhält als Forschungsprojekt Zuschüsse von der Europäischen Union.
Für die Spitzenkandidaten der großen Parteienfamilien bedeutet die Vorhersage: Keiner schafft es aus eigener Kraft, Anspruch auf das Amt des EU-Kommissionspräsidenten zu erheben. Sowohl der Sozialist Martin Schulz als auch der konservative Jean-Claude Juncker werden Koalitionspartner brauchen. Vielleicht bilden sie wieder eine informelle Große Koaltion aus Sozialisten und Konservativen, wie sie schon im scheidenden Parlament üblich war.