Tausende schaulustige Menschen in einem staubigen Fußballstadion. Sie haben sich um eine Frau versammelt. In ihrer blauen Burka sitzt sie gekrümmt auf dem Boden. Neben ihr steht ein Mann, der eine Kalaschnikow auf sie richtet. Er drückt ab.
Eine öffentliche Exekution in Afghanistan während der ersten Taliban-Herrschaft in den 1990er Jahren. Alle Afghaninnen und Afghanen kennen diese Bilder. Entweder haben sie diese mit eigenen Augen gesehen, oder auf dem Fernsehbildschirm verfolgt.
Auch für mich gehören die öffentlichen Exekutionen zu den grauenvollsten Erinnerungen, die ich an diese Zeit habe. Damals war ich noch ein Kind. Im Ausland verfolgten meine Familie und ich über die wenigen Videoaufnahmen, die aus dem Land herauskamen, was dort geschah.
Kollektives Trauma öffentliche Hinrichtungen
Ich hätte niemals geglaubt, dass diese Bilder wiederkehren könnten - nach dem Einmarsch der USA im Oktober 2001 in Afghanistan und der 20 Jahre anhaltenden militärischen Präsenz des Westens. Es kam leider anders.
Mit Besorgnis schaue ich seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 in meine Heimat. Diese Woche ließen die Taliban einen Mann hinrichten, der des Mordes beschuldigt wurde. Der Vater des Opfers sollte ihn vor den Augen aller erschießen. Anwesend waren nicht nur hochrangige Taliban-Vertreter, sondern auch Hunderte von Bewohnern, darunter Kinder.
Sicherlich war das nicht die erste Hinrichtung seit dem die Taliban wieder an der Macht sind. Jedoch war es die erste, die sie bestätigt, und so scheint es mir, sogar als Errungenschaft darstellt haben.
In den Wochen zuvor hatte es bereits wieder öffentliche Auspeitschungen von Männern und Frauen gegeben. In den meisten Fällen wurde ihnen Diebstahl oder Ehebruch vorgeworfen. Die 90er sind zurück in Afghanistan.
Schlimmer geht es nicht : Öffentliche Hinrichtungen vor Zuschauern - ein kollektives Trauma für die Bevölkerung des Landes - sind wieder Realität. Die Taliban haben sich trotz anders lautendender Beteuerungen nicht geändert.
In den Wochen zuvor hatte es bereits das erste Mal wieder öffentliche Auspeitschungen von Männern und Frauen gegeben. In den meisten Fällen wurde ihnen Diebstahl oder Ehebruch vorgeworfen. Die 90er sind zurück in Afghanistan.
Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung
Bestand anfangs noch der Irrglaube, dass das Land nicht ein weiteres Mal in der vollkommenden Dunkelheit versinken würde, so wissen wir jetzt, dass es in keinem Land der Welt dunkler ist als in Afghanistan.
Laut einer kürzlich veröffentlichten Gallup-Umfrage bewerten 98 Prozent der Frauen und 97 Prozent der Männer in Afghanistan ihr Leben als großes Leid. Vor allem unter Frauen ist die Suizidrate in die Höhe geschossen.
Gleichzeitig hungern über 20 Millionen Menschen im Land. Immer wieder werde ich gefragt, warum sich die Menschen in Afghanistan nicht auflehnen – wie ihre Nachbarn im Iran. Die Wahrheit ist, dass sie dazu weder die Kraft noch die Hoffnung haben. Über vier Jahrzehnte Krieg und die damit einhergehenden Traumata haben gewaltige Spuren hinterlassen.
Man kann sich kaum vorstellen, dass im Jahr 2022 – 74 Jahre nach der Verkündung der Allgemeinen Menschenrechte – diese in Afghanistan wieder derart mit den Füßen getreten werden. Und die Welt schaut tatenlos dabei zu.
Es scheint, als hätten sich die vergangenen zwanzig Jahre, in denen gerade diese Rechte als Prämisse für den Einsatz des alliierten Militärbündnisses hochgehalten wurden, in Luft aufgelöst. Als befände sich Afghanistan auf einem anderen Planeten und man trüge keine Verantwortung für das Elend am Hindukusch.
Druck auf die Taliban ausüben
Doch sind Menschenrechte nicht universell und gelten weltweit? Die Taliban begründen ihre Politik mit einer archaischen Auslegung des Islam. Doch auch islamisch geprägte Länder wie Afghanistan haben nach dem Zweiten Weltkrieg an der Ausarbeitung der Menschenrechtserklärung mitgearbeitet.
Und selbst wenn dies nicht der Fall gewesen wäre - auch mit der islamischen Alternative, nämlich der "Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam", kann das Unrecht, das täglich in Afghanistan geschieht, nicht gerechtfertigt werden. Die Erklärung wurde am 5. August 1990 von der Konferenz der Organisation Islamischer Staaten (OIC) angenommen, bei der auch Afghanistan ein Mitgliedsstaat war.
Als Verfechter der Menschenrechte ist es unsere Pflicht, auf das Leid der Frauen und Männer in Afghanistan aufmerksam zu machen und Druck auf das Regime der Taliban auszuüben. Es kann nicht sein, dass ich heute erneut Bilder von Auspeitschungen und Exekutionen auf dem Bildschirm sehen muss, bei denen sich mir die Kehle zuschnürt - wie vor 25 Jahren.
Für mich ergibt sich daraus eine überaus bittere Erkenntnis: Wenn wir nichts dafür tun oder tun können, dass Menschenrechte überall auf der Welt geachtet werden, dann müssen wir die vor 74 Jahren verabschiedete Resolution bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris als gescheitert betrachten.