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Gesellschaft

Wir sollten den Tod nicht verdrängen

3. Januar 2021

Wenn wir uns mit der Zerbrechlichkeit unserer Existenz auseinandersetzen, kommen wir an der Frage nach dem "Warum" des Lebens nicht vorbei. Dadurch können wir Stärke und Resilienz finden, meint Dana Alexandra Scherle.

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Intensivstation der Uniklinik in Greifswald
Bild: Jens Büttner/dpa/picture alliance

Als mir zum ersten Mal klar wurde, dass jeder von uns jederzeit dem Tod begegnen könnte, war ich sieben. Die Geräusche, die ich von draußen hörte, schienen zunächst alles andere als bedrohlich: Es hätten die Nachbarinnen sein können, die gerade ihre Teppiche besonders laut und energisch über der großen Stange vor unserem Wohnblock ausklopfen. Doch es waren Schüsse. Ende Dezember 1989gehörte meine Heimatstadt Sibiu (Hermannstadt) zu den rumänischen Städten, in denen auch nach der Hinrichtung des Diktators Ceausescu noch Schüsse fielen. Meine Mutter erklärte mir liebevoll und zugleich sehr ernst, warum ich auf keinen Fall ans Fenster gehen sollte - und ich verstand sofort: Das alles war kein Spiel.

Macht uns der Gedanke an den Tod depressiv? 

Wie zerbrechlich unser Leben ist, wurde mir auch als Teenager bewusst, als ich wegen einer schweren Krankheit Zeit auf der Intensivstation verbrachte. Den Gedanken an den Tod zu verdrängen, nur weil man sehr jung ist - das schien mir genauso naiv, wie mit 15 noch an den Weihnachtsmann und seine fliegenden Rentiere zu glauben. Doch was bedeutet es, wenn der Tod gedanklich mit am Küchentisch sitzt? Macht einen diese Perspektive auf das Leben nicht depressiv? Im Gegenteil!

Dana Alexandra Scherle
Dana Alexandra Scherle leitet die Rumänische Redaktion der Deutschen WelleBild: privat

Die Zerbrechlichkeit des Lebens ist eng verwoben mit seiner Schönheit. Gerade das Bewusstsein, wie schnell alles vorbei sein kann, bewahrt uns davor, gleichgültig und unreflektiert durchs Leben zu stolpern. Es zeigt uns, dass jeder Tag ein Geschenk sein kann, ein Neuanfang und ein Abenteuer. Begriffe wie "Zeit totschlagen" machen mich wütend: Unsere Zeit ist so kurz und so kostbar, wieso sollte man sie absichtlich "totschlagen"? Es ist genau umgekehrt, irgendwann "schlägt" die Zeit uns sowieso tot - aber das Entscheidende ist, was wir davor tun.

Viktor Frankl und die Frage nach dem individuellen Sinn

Wer den Gedanken an das Ende nicht verdrängt, kommt an der Frage nach dem "Warum" des eigenen Lebens nicht vorbei. So vieles kann unserem Leben einen Sinn geben, zum Beispiel die Liebe zum Partner, zu den Kindern, zur Familie, die berufliche und gesellschaftliche Aufgabe, der religiöse Glaube, ein wissenschaftliches oder künstlerisches Werk... Der Psychiater und Holocaust-Überlebende Viktor Frankl stellte die Frage nach dem Sinn in den Mittelpunkt seiner Bücher und seiner jahrzehntelangen Arbeit mit Patienten. Den Sinn müsse jeder für sich selbst finden, ganz individuell, schrieb Frankl. Von einem einzigen, universalen Sinn für alle auszugehen, sei genauso, als würde man nach dem einen perfekten Schachzug fragen. Entscheidend sei aber, dass dieser Sinn sich an etwas orientiert, das außerhalb von einem selbst sei. 

Gerade in Pandemie-Zeiten sollten wir den Gedanken an den Tod nicht verdrängen. Dazu gehört natürlich, Masken zu tragen, Abstands- und Hygieneregeln zu befolgen und nicht durch Ignoranz oder übertriebene Ängste vor Impfungen die Arbeit des medizinischen Personals noch mehr zu erschweren, das überall auf der Welt für das Leben von Patienten kämpft, wie aktuell auch mein Bruder und unser Vater, der während der Revolution im Dezember 1989 Verletzte behandelte - auch als das Krankenhaus unter Beschuss stand.

Klischees über "positives Denken" helfen nicht 

Gleichzeitig hilft es vor allem in schwierigen Zeiten, wenn der Gedanke an den Tod die Frage nach dem Sinn noch unmittelbarer, noch deutlicher macht. Wenn uns klar wird, dass wir ein "Warum", einen Grund, zu leben haben, sehen wir auch, dass darin unsere Stärke und Resilienz liegt.

Ich konnte mit Binsenweisheiten über "positives Denken" und Klischees wie "In jeder Krise steckt eine Chance" noch nie viel anfangen. Als mein Mann vor anderthalb Jahren sehr krank war, ging es mir auf die Nerven, wenn mir Leute fröhlich erzählten, ich sollte einfach "positiv denken" und alles werde wieder gut. Nein, eine Krankheit lässt sich nicht schönreden. Und eine Pandemie erst recht nicht.

Die Toten sind keine Zahlen, sondern unersetzliche Menschen 

Die COVID-Toten sind keine Zahlen und Statistiken. Sie sind einzigartige, unersetzliche Menschen, jede und jeder von ihnen eine ganze Welt von Gedanken, Gefühlen und Träumen. Lasst uns den Tod nicht verdrängen, sondern über jene sprechen, die von uns gegangen sind.

Zeigen wir unseren Lieben, die noch bei uns sind, wie viel sie uns bedeuten. Und ja, wir können ihnen Mut und Zuversicht geben, selbst wenn wir geografisch weit entfernt sind. Einsamkeit ist vor allem ein Mangel an echter emotionaler Verbundenheit – aber die besteht auch in Phasen der räumlichen Trennung weiter und kann auch in Lockdown-Zeiten durch Telefonate und Videocalls aufrechterhalten werden.

Legen wir die platten Durchhalteparolen beiseite, um lieber offen über unsere Ängste zu sprechen. Ja, auch über den Tod. Über die Zerbrechlichkeit und die Schönheit des Lebens, das manchmal dunkel ist. Aber niemals sinnlos.

Porträt einer lächelnden Frau mit Brille und langen braunen Haaren
Dana Alexandra Scherle Redakteur und Autor der DW Programs for Europe