Aus Sicht vieler Taiwanesen war der Besuch der Vorsitzenden des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, ein voller Erfolg. Immer weiter hat China in den zurückliegenden Jahren den Druck auf Taiwan erhöht. Zum Beispiel, indem es immer mehr Kampfflugzeuge in die unmittelbare Nähe der Insel schickte - fast tausend waren es allein im Jahr 2021, mehr als doppelt so viele wie noch ein Jahr zuvor.
China hatte im Vorfeld alles unternommen, um den Besuch Pelosis in Taiwan zu verhindern. Doch Pelosi kam trotzdem - für viele Taiwanesen ein wichtiges Zeichen, dass die USA Taiwan zur Seite stehen werden, sollte es zu einer Eskalation mit China kommen.
Genugtuung für viele Taiwanesen
Pelosi hat Taiwan mit ihrem Besuch auf die Weltbühne gehoben: Plötzlich war die Insel Aufmacher in den Nachrichtensendungen weltweit. Dank Pelosi sollten nun die meisten Zuschauer wissen, wo Taiwan liegt und in was für einer komplizierten Lage es sich befindet. Für viele eine Genugtuung. Denn unzählige Taiwanesen haben bei Besuchen im Ausland in der Vergangenheit immer wieder erklären müssen, dass sie aus "Taiwan" kommen und nicht aus "Thailand". Und dass es sich dabei um verschiedene Orte handelt.
Und der Besuch Pelosis war auch ein Ausdruck der Wertschätzung und des Respekts. Respekt für viele Dinge, auf die die Taiwanesen zu Recht sehr stolz sind: eine lebendige Demokratie, eine in Asien fast beispiellose Pressefreiheit, eine sehr offene, tolerante und gastfreundliche Gesellschaft und bemerkenswerter Erfolg in einem der wichtigsten Wirtschaftszweige unserer Zeit: der Chipindustrie.
Diese Sicht ist mehr als verständlich. Richtig ist aber auch, dass der Besuch Pelosis zu einer militärischen Reaktion Chinas geführt hat, die absehbar war. Die Taiwan-Frage ist ein eingefrorener Konflikt, für den es aktuell keine Lösung gibt. Eine formelle Unabhängigkeitserklärung Taiwans würde Peking sofort mit einem Krieg beantworten. Eine Wiedervereinigung mit der Volksrepublik China unter Xi Jinping ist hingegen für die meisten Taiwanesen - zumal nach der aktuellen Entwicklung in Hongkong - derzeit vollkommen ausgeschlossen.
Eingefrorene Konflikte nicht anheizen
Wie hat der Politikwissenschaftler Eberhard Sandschneider zu Recht angemerkt? Wenn man für einen eingefrorenen Konflikt keine Lösung hat, dann sollte man alles dafür tun, dass der Konflikt eingefroren bleibt. Doch Nancy Pelosi hat mit ihrem Besuch das genaue Gegenteil erreicht.
Wie die Geschichtsschreibung den Besuch Pelosis rückblickend beurteilen wird, hängt vor allem von der Entwicklung der nächsten Tagen und Wochen ab. Die meisten Beobachter rechnen nicht mit einer militärischen Eskalation, auch wenn der Umfang der chinesischen Militärmanöver alles bisher Dagewesene überschreitet. Viele gehen davon aus, dass sich die Lage wieder entspannt, sobald Peking den Eindruck hat, dass es - mittels militärischem Großaufgebot - seinen Standpunkt überdeutlich gemacht hat.
Es gibt aber auch die Gefahr, dass es bei den Großmanövern zu einem Unfall kommt. Oder zu einer fatalen Fehlentscheidung, die dann zu einer Kettenreaktion führt. Dann stünde der Besuch - im schlimmsten Fall - am Anfang einer direkten militärischen Konfrontation zweier Welt- und Atom-Mächte: Chinas und den USA.