Stellen Sie sich vor, Sie sind auf der Party von Bekannten und jemand sagt etwas, mit dem Sie ganz und gar nicht übereinstimmen. Halten Sie sich nun den Abend über von dem- oder derjenigen fern? Nehmen Sie die Person zur Seite und stellen sie zur Rede? Oder machen Sie sie lautstark zur Sau und fordern sie auf, die Veranstaltung zu verlassen?
Letztere Option wäre wohl das, was mittlerweile immer häufiger als "Cancel Culture" (Absage- oder Löschkultur) bezeichnet wird. Gemeint ist die Tendenz, übermäßig auf Beleidigungen, Diskriminierungen oder Fehltritte zu reagieren - etwa mit sozialer Ächtung, Shitstorms oder Boykottaufrufen.
Unverhältnismäßig
Ein bekanntes Beispiel ist David Shor. Der weiße US-Amerikaner fasste auf Twitter die Studie eines schwarzen Politologen zusammen: Demnach erreichen Proteste gegen soziale Ungerechtigkeit mehr Zuspruch, wenn sie friedlich sind. Eine Woche später war der Datenanalyst seinen Job los - Aktivisten hatten Shors Tweet als Kritik an der "Black Lives Matter"-Bewegung gewertet und gegen ihn mobil gemacht.
Im deutschsprachigen Raum schlug im Sommer die Ausladung von Lisa Eckhart von einem Hamburger Literaturfestival hohe Wellen. Die umstrittene Österreicherin - Kritiker werfen ihr vor, sich in ihrem Kabarettprogramm rassistischer und antisemitischer Klischees zu bedienen - war für den Preis für den besten Debütroman nominiert und sollte dort auftreten. Aber nachdem zwei andere Autoren es ablehnten, gemeinsam mit Eckhart auf der Bühne zu stehen, und es angeblich Drohungen aus der autonomen Szene gab, lud die Festivalleitung die 27-Jährige wieder aus.
Das Ganze war eine Blamage für das Festival - und insofern bedenklich, als man Eckharts Kabarettauftritte durchaus geschmacklos finden kann. Doch das ist wohl kaum Grund genug, ihr einen öffentlichen Auftritt als Buchautorin zu verwehren. Zumal Kabarett nun einmal Satire ist. Diejenigen, die die Kunstfreiheit etwa im Fall von Jan Böhmermanns Schmäh-Gedicht auf den türkischen Präsidenten Erdogan laut verteidigt haben, dürfen hier nicht mit zweierlei Maß messen.
Links gegen Rechts
Wie im Fall Shors oder Eckharts richtet sich der Vorwurf zu "canceln" oft an das linke Milieu. Längst ist eine aufgeregte Meta-Debatte darüber entstanden, ob es Cancel Culture überhaupt gibt oder ob es sich nur um einen Kampfbegriff von Konservativen und Rechten handelt, um berechtigte Kritik an Rassismus, Sexismus und Diskriminierung als übertrieben abzutun.
So versucht etwa die rechtspopulistische AfD, den Begriff für sich zu vereinnahmen und ihn in ihre altbekannte Mär von der "linken Meinungsdiktatur" zu integrieren. Auch Donald Trump - selbst einer der lautesten Polterer auf Twitter - bediente sich schon des Wortes.
Aufgepasst also, mit wem man sich gemein macht, wenn man von Cancel Culture spricht. Und trotzdem zeigen die genannten Beispiele, dass sich zumindest punktuell in der Tat so etwas wie Cancel Culture entwickelt hat. Denn jenseits von Alarmismus und Weltuntergangsfantasien ist durchaus wahrnehmbar, dass die Tendenz, anderen Meinungen konstruktiv zu begegnen, abgenommen hat. Dass man für falsch gewählte Worte oder unglückliche Aktionen schnell gnadenlos in der Luft zerrissen wird.
Übertriebene öffentliche Empörung
Ein weiteres Beispiel für übertriebene öffentliche Empörung ist die Reaktion, die ein Satire-Video des WDR-Kinderchors etwa vor einem Jahr auslöste. Die Kinder besingen darin eine SUV-fahrende Großmutter als "Umweltsau". Darin sahen manche eine derart unverschämte Beleidigung der älteren Generation, dass es sogar Morddrohungen gab - ja, Morddrohungen!
Das Umweltsau-Beispiel zeigt übrigens, dass "Canceln" eben nicht immer nur von links kommen muss. Lagerdenken à la "Minderheiten versus Eliten" oder "Links versus Rechts" greift bei der Erklärung des Phänomens zu kurz. Die Empfindlichkeit hat auf allen Seiten zugenommen.
Der Blick auf den Einzelfall
Statt sich also an dem Begriff Cancel Culture aufzureiben lohnt sich der Blick auf den Einzelfall. Es gibt Beleidigungen und Diskriminierungen, mit denen niemand einfach davonkommen sollte. Andere Male wird etwas aufgeblasen, das bei Tageslicht betrachtet die ganze Aufregung nicht wert war.
Grundsätzlich ist es gut, dass sich heutzutage mehr Menschen und insbesondere geschichtlich benachteiligte Gruppen leichter Gehör verschaffen können, dass die Aufmerksamkeit für Diskriminierung zugenommen hat. Nicht gut ist aber, wenn sich aus Angst vor sozialer Ächtung weniger Menschen trauen, ihre eventuell unpopuläre Meinung oder ihre unbequemen Fragen zu äußern, und wenn Debatten dadurch weniger divers werden. Denn das ist doch eigentlich das entscheidende Ziel: mehr Vielfalt.