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PolitikEuropa

Keine Angst vor Putins Atom-Drohung

Joscha Weber Bonn 9577
Joscha Weber
14. Oktober 2022

Putin habe angesichts der militärischen Erfolge der Ukraine und der Lieferung westlicher Waffen bald nur noch eine Option: die Atombombe, warnen Experten. Dieses Narrativ ist falsch und gefährlich, meint Joscha Weber.

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Ein US-Atomtest in Nevada 1953: Blick auf den Atompilz auf dem Testgelände in Nevada am 23. Mai 1953. Hunderte hochrangiger Militärs sowie Kongressmitglieder waren anwesend, als erstmalig in der Geschichte eine Atombombe mittels eines neuartigen Artillerie-Geschützes (r) abgeschossen wurde. (Foto: picture alliance)
Taktische Atomwaffen, um eine Niederlage in der Ukraine abzuwenden? Diese Drohung sollte uns keine Angst machen, meint Joscha Weber - im Gegenteil.Bild: Consolidated National Archives/dpa/picture-alliance

Angst lähmt uns. Angst schwächt uns. Angst verhindert einen klaren Blick auf die Dinge. Und vor nichts haben wir so große Angst wie vor einem Atomkrieg, mit dem Putin einmal mehr droht. Denn dieser könnte unseren Untergang bedeuten, die Apokalypse, das Ende.

Die Angst um die Existenz von Planet und Menschheit lässt sich in Zahlen ausdrücken: Nach aktuellen Umfragen fürchten 58 Prozent der US-Amerikaner, dass Russland auf einen Atomkrieg zusteuert, in Deutschland befürchten dies 49 Prozent der Menschen.

Die Angst ergreift längst auch Politiker, Militärs und Experten. Ein Beispiel: Der Politologe und Putin-Experte Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck warnte im Deutschlandfunk, dass Putin bei weiteren Territorialgewinnen der Ukraine und einer fortgesetzten Belieferung mit modernen Waffen aus dem Westen nur noch "die nukleare Eskalation" bliebe, die "zunehmend wahrscheinlich" würde, falls Russland in die Defensive geriete.

Wer nachgibt, verliert

Was liegt also näher, als das Schlimmste verhindern zu wollen? Zur Not auch durch Zugeständnisse an Putin? Es wäre die schlechteste aller Optionen. Wenn der Westen der nuklearen Erpressung durch Putin nachgäbe, verlöre er auf ganzer Linie.

Joscha Weber, Head of DW's Fact-checking Team (Foto: DW)
DW Redakteur Joscha Weber: "Angst ist genau das, was Putin mit seiner hybriden Kriegsführung aus Militär, Energie und Desinformation erzeugen will."Bild: DW

Die Ukraine müsste erhebliche Gebietsverluste hinnehmen, osteuropäische Länder würden mit Recht den Beistand von EU und USA anzweifeln, und die NATO könnte ihre eigene Abschreckungs-Strategie getrost in die Tonne kloppen.

Kurz: Putin hätte gewonnen. Und er könnte diese Taktik erneut anwenden, schlussfolgert US-Historiker Historiker Timothy Snyder von der Yale Universität in einem viel beachteten Aufsatz: "Gegenüber nuklearer Erpressung nachzugeben, wird den konventionellen Krieg in der Ukraine nicht beenden. Es würde vielmehr zukünftige Atomkriege wahrscheinlicher machen."

Angst ist immer ein schlechter Berater, besonders in Situationen wie diesen. Standhaftigkeit, Geschlossenheit und Stärke braucht es, um der Erpressung mit der Bombe zu widerstehen, zur Not auch durch den Verweis auf das eigene Arsenal.

Abschreckung muss glaubhaft und konsequent sein, alles andere ermutigt Putin. So geschehen 2013, als der damalige US-Präsident Barack Obama in Syrien bei der Anwendung von chemischen Waffen eine "rote Linie" zog, die anschließend vom durch Russland unterstützten Machthaber Baschar al-Assad überschritten wurde, ohne dass der Westen direkt in den Krieg eingriff.

So geschehen auch 2014, als Russland völkerrechtswidrig die Krim annektierte und der Westen nur zusah. Beides dürfte Putin ermuntert haben, den Angriff auf die Ukraine zu wagen.

Moskau hat viel zu verlieren

Ukraine Krieg: zerstörter Russischer Panzer in Charkiw (Foto: picture alliance)
Zerstörter russischer Panzer in Charkiw: Rücken die Verbündeten ab?Bild: Vyacheslav Madiyevskyi/Ukrinform/abaca/picture alliance

Angst ist genau das, was Putin mit seiner hybriden Kriegsführung aus Militär, Energie und Desinformation erzeugen will. Bei aller berechtigten Sorge vor einer nuklearen Katastrophe ist es wichtig einen kühlen Kopf zu bewahren. Der sagt uns zum Beispiel, dass Putin schon zu Kriegsbeginn mit der Atombombe drohte - ohne weitere Schritte der Mobilisierung der Nuklearstreitkräfte einzuleiten.

Und es ist längst kein Automatismus, dass eine an den Rand gedrängte Atommacht auf den roten Knopf drückt. Das taten weder die Sowjetunion noch die USA bei ihren schmachvollen Operationen in Afghanistan oder Vietnam.

Und dies auch aus einem oft übersehenem Grund: Ein nuklearer Aggressor ist automatisch ein Verlierer. Weder könnte er mit dem verstrahlten Gebiet etwas anfangen, noch verblieben danach allzu viele Verbündete. China, Indien und andere Staaten würden sich von Russland abwenden, ein Trend, der ohnehin bereits erkennbar ist. Und auch im Inland dürfte ein solcher Schlag gegen das angeblich zu befreiende Brudervolk der Ukraine den russischen Präsidenten Legitimation und Rückhalt kosten. Keine Angst also, Putin hat selbst viel zu verlieren.