Die Bilder vom 6. Januar sind ein erschütternder Beleg für den Zustand, in dem sich die Vereinigten Staaten nach vier Jahren Donald Trump befinden. Sie haben sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Nicht nur in den USA. Das wird auch die Welt nicht mehr vergessen. Aufgehetzt von Hass und zerfressen von Verschwörungstheorien stürmten die Anhänger des amtierenden Präsidenten die Herzkammer der amerikanischen Demokratie. Auf den Tag genau zwei Wochen später haben die Vereinigten Staaten nun einen neuen Präsidenten. Diesen Prozess konnte Donald Trump mit all seinen zersetzenden Lügen nicht aufhalten. Das ist die gute Nachricht. Und wir alle sollten einen Moment durchatmen.
Die Ära Trump ist noch nicht vorbei
Donald Trump ist nicht mehr der Präsident der USA. Vorbei ist seine Ära damit aber noch lange nicht. Das Land, das er hinterlässt, ist so gespalten wie seit dem Bürgerkrieg vor mehr als 150 Jahren nicht mehr. Die politischen Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber. Das gilt für den Familientisch wie das Parlament. Weite Teile seiner Anhänger leben in einem Lügengebäude, in das Trump sie über Jahre geschickt getrieben hat.
Auch außenpolitisch ist Trumps Bilanz desaströs. Langjährige Verbündete sind verstört, autoritär oder diktatorisch regierte Länder wie Russland oder China reiben sich die Hände beim Anblick des Sturms auf das Kapitol in Washington.
Joe Biden hat Verwüstung geerbt. Chaos. Und brutale wirtschaftliche Verwerfungen. Er hat an diesem 20. Januar 2021 ein Weißes Haus übernommen, in dem nichts bestellt und nichts in Ordnung ist. Seit Wochen wird diese Atom- und wirtschaftliche Supermacht faktisch nicht mehr regiert. Das ist gefährlich für Amerika, aber auch für die internationalen Verbündeten. Denn so ein Vakuum wird schnell gefüllt.
Kompromisse mit dem politischen Gegner
Es gab noch nie einen Präsidenten, der bei Amtsantritt über so viel Erfahrung verfügte wie Joe Biden. Über 50 Jahre ist er im politischen Geschäft, hat als Abgeordneter daran gearbeitet, Kompromisse mit der politischen Gegenseite zu finden und hat als Vizepräsident von Barack Obama acht Jahre die Herausforderungen des Amtes hautnah erlebt.
Auch in seiner ersten Rede als 46. Präsident der Vereinigten Staaten stellte Biden diese wichtige Eigenschaft heraus: Er präsentiert sich als Versöhner. Es gelang ihm trotz der extremen Sicherheitsmaßnahmen, die das Volk ausgesperrt hatten von dieser Feier der Demokratie, dem Moment der Amtseinführung Würde zu verleihen. Das kann er. Und diese Eigenschaft ist gar nicht hoch genug einzuschätzen in diesem Land, das so viel Gesichtsverlust erlebt hat in den vergangenen Wochen.
Rückkehr zu Verlässlichkeit
Für die internationale Gemeinschaft kehrt wieder Verlässlichkeit ein. Biden bekennt sich klar zur NATO als transatlantischem Bündnis. Er ist ein Multilateralist, der weiß, dass Amerika in einer globalisierten Welt alleine keine Chance hat. Auch wenn das nicht heißt, dass Europa sich künftig wieder hinter dem großen Bruder wird verstecken können. Auch dieser US-Präsident wird mehr Engagement, auch finanzielles, vom alten Kontinent erwarten.
Joe Biden ist der richtige Mann für den Moment. Sein Team besteht in weiten Teilen aus erfahrenen Profis, die in der Lage sind, von Tag eins an die Regierungsgeschäfte sicher zu führen. Der neue Präsident wird so hoffentlich das Schlimmste abwenden können und Kompromisse mit den Republikanern finden, um die in der Corona-Pandemie lebenswichtigen Sofortprogramme endlich aufzusetzen.
Eine neue Normalität finden
Die große Herausforderung aber wird es sein, nach dem Krisenmanagement das Land in eine neue Normalität zu führen. Was ist das nachhaltige Konzept, das Biden und seine Administration den Menschen anbietet, die sich zurecht von der großen Politik im Stich gelassen fühlen? Was ist sein Programm, die soziale Ungerechtigkeit, die immer spürbarer und schlimmer wird, zu bekämpfen? Was ist sein Angebot für Menschen, die aufgrund ihrer Hautfarbe bei Polizeikontrollen brutal bedrängt werden?
Joe Biden ist ein Präsident des Übergangs. Das hat er von Anfang an klar gemacht. Aber versöhnende Worte allein werden nicht reichen, um das Land in eine gemeinsame Zukunft zu führen.
Die USA brauchen eine neue Idee von sich selbst. Eine Antwort auf die Frage, wie sie in Zukunft leben wollen? Was ist das eigentlich, dieses "amerikanisch" sein? Welche Rolle sollen Einwanderer spielen? Und wo ist der Platz der USA auf der Weltbühne? Joe Biden hat auf diese großen Zukunftsfragen keine Antworten und kaum die Kraft eine solche Vision in der nahen Zukunft zu entwickeln. Das ist die Tragik des heutigen Tages, bei aller Erleichterung darüber, dass nun Joe Biden und nicht mehr Donald Trump als Präsident amtiert.