Ich habe mit ihr mitgefühlt. Wie oft habe ich selbst zu spüren bekommen, dass ich jünger bin, was so gerne gleichgestellt wird mit unerfahren - und dann noch Frau dazu. Wie oft hat mich jemand belehrt, mir Ratschläge gegeben und die Welt erklärt, mich in die Rolle des "artigen Mädchens" gezwängt, der ich mich zu entziehen versuchte. Nicht, dass Ratschläge etwas schlechtes wären, ganz im Gegenteil. Doch kommen sie irgendwie unpassend herüber, wenn sie vor Publikum erteilt werden und Dritte mithören können.
Am vergangenen Freitag konnten alle mithören. Knapp 20 Minuten lang hörte sich die neue deutsche Außenministerin Annalena Baerbock aus dem Munde ihres erfahreneren Kollegen in Warschau geduldig Forderungen, Vorwürfe, Unzufriedenheiten an.
Und das beim Antrittsbesuch, der normalerweise eher einer Schnupperpartie gleicht. Alles nur ein freundschaftlicher Ratschlag eines fünfundzwanzig Jahre älteren Kollegen?
Mission Impossible in Polen?
Zbigniew Rau ist seit einem Jahr polnischer Außenminister, doch er wisse, dass "theoretische Vorstellungen" in diesem Job durch "ständige Praxis" korrigiert werden. Und so dürfte es Annalena Baerbock ergangen sein - an diesem eisigen Tag in Warschau. Er wünsche ihr Glück. "Sie werden es brauchen bei der Erfüllung Ihrer Mission, aber auch in den polnisch-deutschen Beziehungen", so Polens Diplomatie-Chef. Und obwohl diese "Mission" im Kontext des deutsch-polnischen Verhältnisses für Baerbock eher wie eine "Mission Impossible" wirken durfte, ließ ihr Gesichtsausdruck wenig anmerken. Nicht als Rau die Forderungen Polens nach Reparationen ansprach, nicht als er mahnte Polen würde sich konsequent gegen Nord Stream 2 wehren, nicht als er Polens Desinteresse an einer Föderalisierung Europas äußerte.
Aufmerksam und zugewandt schaute die Grünen-Politikerin ihren polnischen Kollegen an, doch ihre Worte danach waren alles andere als die eines "artigen Mädchens". Mehr noch, sie sprach deutlich das aus, was viele ihrer ausschließlich männlichen Vorgänger nur mit Fingerspitzen anfassten. Baerbock forderte humanitäre Hilfe für Migranten sowohl auf belarussischer wie auch auf polnischer Seite der Grenze, sprach Polens Rotes-Tuch-Thema, die Rechtstaatlichkeit, an und äußerte, es wäre manchmal viel wichtiger zuzuhören als selber viel zu sagen, was im Kontext des langen Vortrags des polnischen Ministers wie eine Spitze wirkte.
Treffen auf Augenhöhe?
Da hatte es der neue Kanzler am Sonntagabend auf den ersten Blick leichter. Sein Treffen mit dem polnischen Premier Mateusz Morawiecki war mehr auf Augenhöhe, die Themen ähnlich.
Beim Thema Reparationen verwies Scholz auf die hohen deutschen EU-Zahlungen und "sehr, sehr hohen Beiträge", von denen ein Großteil auch in EU-Länder im Süden und Osten der Gemeinschaft fließe.
Eine gewagte Ausführung. Ich bin mir sicher, bei vielen Polen sträubte sich alles, besonders als der Bundeskanzler äußerte, was in Polen nicht gut ankommt: Dass Deutsche sowohl in Polen, aber auch in vielen anderen Orten der Welt viel Zerstörung angerichtet haben. Nicht nur hier also. Auch Scholz muss vielleicht noch dazu lernen, zum Beispiel was landestypische Empfindlichkeiten betrifft.
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne
Zwei Antrittsbesuche in der wohl schwierigsten Phase in den bilateralen Beziehung seit Jahren, mit einer spürbaren Distanz und deutlichen Differenzen - das hätte sich Baerbock, als sie 2004 auf der Oderbrücke zwischen Frankfurt und Slubice stand und mit 24 Jahren den EU-Beitritt Polens feierte, wahrscheinlich nicht ausgemalt.
Ich finde es gut, dass Deutschland eine Außenministerin hat, die aus meiner Generation stammt. Eine, der es paradoxerweise einfacher fallen dürfte, mehr zu sagen als ihren Vorgängern. Und so wohnt auch diesem Anfang ein Zauber inne - die Rollen wurden getauscht: Polen wurde zum Lehrer einer "Schülerin", die die Chance hat, die Prüfungen, die da noch kommen werden, mit Bestnoten zu bestehen.