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PolitikEuropa

Die Ukraine braucht eine EU-Perspektive

Autor und Kolumnist der ukrainischen Redaktion der Deutschen Welle Eugen Theise
Eugen Theise
9. März 2022

Jahrelang vertröstete die Europäische Union die Ukraine mit Integrationsprojekten, die allesamt keine konkrete Beitrittsperspektive beinhalteten. Jetzt ist die Zeit für einen Kurswechsel gekommen, meint Eugen Theise.

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Plenarsaal des Europaparlaments in Brüssel mit blau-gelben Plakaten "We stand with Ukraine" auf den Sitzplätzen der Abgeordneten
Im Europäischen Parlament hat die Ukraine bereits viel Solidarität erfahrenBild: John Thys/AFP/Getty Images

Nachbarschaftspolitik, privilegierte Partnerschaft, Östliche Partnerschaft - wie auch immer die Integrationsprojekte der EU gegenüber der Ukraine und anderen europäischen Nachbarn im Osten in den vergangenen zwei Jahrzehnten hießen - sie hatten eines gemeinsam: nur keine konkrete Beitrittsperspektive!

Als die Ukraine und die Europäische Union 2014 ein ambitioniertes Assoziierungsabkommen unterzeichneten, mussten ukrainische Diplomaten mit den Bürokraten in Brüssel um jedes Wort der Präambel ringen, um die Hoffnung der Ukrainer auf eine europäische Zukunft zum Ausdruck zu bringen.

Euphemismen statt konkreter Perspektive

Dieser deklarative Teil des Abkommens liest sich wie ein mit Euphemismen gespickter ritueller Text, in dem mit geradezu mystischer Verehrung umständlich etwas umschrieben wird, was aber unter Höchststrafe nicht ausgesprochen werden darf: Die Ukraine soll eines Tages EU-Mitglied werden können! Wenn man bedenkt, welchen Preis die Ukraine gerade für ihr Streben nach einer europäischen Perspektive zahlt, ist dieser Eiertanz beschämend.

DW I Kommentarbild  Eugen Theise
DW-Redakteur Eugen Theise stammt aus der UkraineBild: Privat

So ist im Assoziierungsabkommen von der Ukraine als einem europäischen Land die Rede, das durch "eine gemeinsame Geschichte und gemeinsame Werte mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union verbunden ist". Von einer "europäischen Identität" der Ukraine ist weiter zu lesen, ja sogar davon, dass die EU "die auf Europa gerichteten Bestrebungen der Ukraine" anerkennt. Es ist also vieles drin - nur keine konkrete Beitrittsperspektive.

Heute, während russische Bomben ukrainische Städte in Schutt und Asche legen, lesen sich diese blumigen Sätze wie ein Dokument europäischer Kleinmütigkeit. Tausende Ukrainer sterben aus einem einzigen Grund: Weil sie es gewagt haben, den revisionistischen Begehrlichkeiten eines barbarischen Regimes in Moskau die Stirn zu bieten und von einer Zukunft als Teil des freien Europas zu träumen.

Endlich ein Bekenntnis zur gemeinsamen Zukunft!

Vier Tage nach Beginn des russischen Einmarschs unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj - so bühnenreif und populistisch wie ein ehemaliger Komiker nur sein kann - einen Antrag auf Beitritt zur Europäischen Union. Während russische Panzer bereits vor Kiew stehen und die ukrainische Hauptstadt unter Dauerbeschuss steht, gleicht dieser symbolische Hilferuf der Stimme des biblischen  Rufers in der Wüste. Standing Ovations im Europaparlament und Begeisterung der europäischen Presse für den Mut der Ukrainer helfen nicht. Dieses Land und seine Menschen brauchen eine Zukunftsvision, eine europäische Perspektive.

Wenn nun in den kommenden Tagen beim EU-Gipfel in Versailles über den Antrag aus Kiew beraten wird, darf nicht vergessen werden: Es geht nicht nur um die Beitrittsperspektive für die Ukraine, es geht um die Zukunft Europas als Wertegemeinschaft. Kein Land des Kontinents hat je einen höheren Preis bezahlen müssen, um Teil des vereinten, demokratischen Europas werden zu können. Wer dies verkennt, der hat aus Putins abscheulichem Angriffskrieg noch keine Lehre gezogen.

Es ist nicht die Stunde der Skeptiker

Die Zukunft der Ukraine ist ungewisser denn je. Klar ist: die Menschen in der Ukraine werden mit allen Kräften für ihre Freiheit kämpfen. Auch wenn Skeptiker eine EU-Beitrittsperspektive in dieser Situation als reine Symbolpolitik abkanzeln - ein stärkeres und ermutigenderes Signal kann die EU dieser Tage nicht senden: Das demokratische Europa ist unser gemeinsames Zuhause. Und deswegen muss die Ukraine Teil der EU werden können!

Der Weg zu einer vollen Mitgliedschaft ist ein Generationenprojekt. Der notwendige Wiederaufbau und eine mögliche dauerhafte russische Besatzung von Teilen des Landes werden diesen Weg noch schwieriger machen, als er angesichts stockender Reformen in Kiew ohnehin schon war. Doch wir dürfen den Menschen in der Ukraine die Hoffnung auf eine europäische Zukunft nicht verwehren. Die Europäische Union hat als eine glaubwürdige Wertegemeinschaft nur dann eine Zukunft, wenn sie die Ukraine nicht fallen lässt. Allein eine Beitrittsperspektive wäre seitens der EU auch ein überzeugendes Signal an Moskau: Die Ukraine ist keine Pufferzone und auch nicht Russlands Vorgarten, sondern ein Teil der europäischen Familie.