Angela Merkel hat Recht: Etwas ist über uns gekommen, auf der ganzen Welt, in diesem atemlosen Jahr 2020, etwas, womit keiner gerechnet hat. Die Kanzlerin gibt sich in ihrer letzten Neujahrsansprache gar nicht erst die Mühe, über etwas anderes zu sprechen als über die Pandemie. Ein paar Worte verliert sie am Ende über den Klimaschutz und über die Notwendigkeit, weiter für gleiche Lebensverhältnisse in Deutschland zu sorgen. Aber ansonsten ist ihr Thema Corona - und vor allem das, was das Virus aus den Menschen macht.
Noch einmal beschwört Merkel den Gemeinsinn
Oft wird Merkel vorgeworfen, auch großen Problemen allzu nüchtern und analytisch zu begegnen. Aber früh in diesem Jahr hat die Kanzlerin darauf hingewiesen, was ihrer Ansicht nach das Wichtigste ist, was das Land, die Gesellschaft jetzt braucht: Zusammenhalt, Einsicht in Maßnahmen, Beschränkungen, Zumutungen, die es so vorher nicht gab. Um genau diesen Zusammenhalt wirbt Merkel auch jetzt. Just zu dem Zeitpunkt, an dem die Menschen der vielen Schreckensmeldungen müde sind, in der sie entnervt bis fassungslos das Chaos um den Impfstart in Deutschland zur Kenntnis nehmen. Es ist also bitter nötig, nochmal den Kraftakt zu würdigen, den auch Deutschland 2020 leisten und auch 2021 weiter wird leisten müssen.
Der Mensch im Zentrum
Merkel bittet darum, inne zu halten und um die Toten zu trauern. Sie kennzeichnet die Minderheit, die die Existenz des Virus leugnet, mit klaren Worten: Unwahr und gefährlich sei das, zynisch und grausam den Opfern gegenüber. Sie würdigt Ärzte, Pfleger, Busfahrer, Supermarktangestellte, Polizisten und Soldaten, die Mitarbeiter in den Gesundheitsämtern. Sie erwähnt die Kulturschaffenden und Gewerbetreibenden, die um ihre Jobs fürchten. Und ganz kurz lässt sie es sich dann doch nicht nehmen, auf den zweiten großen politischen Kampf hinzuweisen, der bis vor einem Jahr zentral mir ihrer Kanzlerschaft verbunden war: Der Frage, wie viel Zuwanderung das Land verträgt, wie viele Flüchtlinge. Merkel erwähnt die deutsche Firma Biontech, in der der jetzt weltweit eingesetzte Corona-Impfstoff entwickelt wurde. Eine Firma, in der Menschen aus 60 Nationen zusammenarbeiten. Nichts könne besser zeigen, dass es die Kraft der Vielfalt sei, die den Fortschritt bringe, so Merkel. Das klingt dann doch fast schon wie ein Vermächtnis.
Keine Entschuldigung für Fehler
Wer erwartet hatte, dass sich die Kanzlerin für manche schweren Fehler bei der Pandemie-Bewältigung vor allem in den letzten drei Monaten entschuldigen würde, der wird enttäuscht. Von einem ständigen Lernen das ganze Jahr über spricht die Kanzlerin, und das war's. Umgekehrt verkneift sie sich jede Schuldzuweisung etwa an die Ministerpräsidenten mancher Länder, die im Sommer ungeduldig auf ein Ende der Frühjahrs-Beschränkungen pochten. Und sie verzichtet wohltuend auf die Art von Publikumsbeschimpfung, die sie sich selbst noch im Dezember leistete: Als es auch bei Merkel so klang, als sei jeder auf den Straßen getrunkene Glühwein ein Anschlag auf die Gesundheit der Mitmenschen.
Den Streit um die Impfreihenfolge hält Merkel für Zeitverschwendung
Die hitzige Debatte um die Frage, in welcher Reihenfolge denn nun geimpft werden soll, streift Merkel dann zum Schluss mit einem für sie typischen, kurzen Satz: "Auch ich werde mich impfen lassen, wenn ich an der Reihe bin." Will sagen: Der Streit um die Reihenfolge ist unnötig wie ein Kropf.
Ohne Corona hätte die Kanzlerin, seit 15 Jahren im Amt, diese Neujahrsansprache vielleicht genutzt, um auf die Ära zurückzublicken, die mit ihrem Namen verbunden ist. Aber das wäre jetzt unpassend. Merkels Kanzlerschaft steht nun unter der Überschrift, ob das Land, ob die Gesellschaft es schaffen, die Pandemie so zu bekämpfen, dass das Land danach erfolgreich weiter machen kann. Ob das gelingt, steht noch nicht fest. Merkel weiß das. Keine Zeit also, um ein Fazit zu ziehen.