Obwohl der ultrarechte Präsident Jair Bolsonaro nach dem ersten Wahlgang rund fünf Prozentpunkte hinter seinem linken Herausforderer Lula da Silva liegt, hat er mit 43 Prozent weitaus besser abgeschnitten, als es die Meinungsforscher vorausgesagt hatten. Für diese stellt der Wahlausgang ein Desaster dar und öffnet rechten Verschwörungsmythen von gefälschten Umfrageergebnissen zugunsten der Linken Tür und Tor.
Auch die Medien müssen sich fragen lassen, wieso sie die Narrative vom weit abgeschlagenen Bolsonaro immer weitergesponnen haben, obwohl dessen Mobilisierungspotential auf seinen Demonstrationen im ganzen Land offensichtlich wurde. Sie haben damit, wenn auch unabsichtlich, das Misstrauen gegenüber den traditionellen Medien weiter verstärkt.
Rechte im Kongress geben den Ton an
Selbst wenn man nach der derzeitigen Wahl-Arithmetik davon ausgehen kann, dass Lula da Silva im zweiten Wahlgang in vier Wochen gegen Bolsonaro gewinnen wird, so wird er es mit einem äußerst rechten und widerspenstigen Kongress zu tun bekommen.
Dort werden nun die vielen neuen Senatoren und Abgeordneten, die zu Bolsonaros Bewegung gehören, alles daransetzen, jedes Vorhaben von Lula zu torpedieren.
Lula will Brasilien wieder umweltfreundlicher und internationaler machen. Er will die Bildung, die Kultur und die Wissenschaft stärken, die Ureinwohner besser schützen und Schwarzen und Unterprivilegierten mehr Chancen und Rechte geben. Doch dabei wird der neue Kongress kaum mitspielen. Die Rechte, die im neuen Kongress den Ton angeben wird, will etwas völlig anderes: Sie will den Waffenbesitz weiter erleichtern, noch mehr Militärschulen voller Zucht und Ordnung schaffen, den Amazonasurwald rücksichtsloser ausbeuten und die evangelikalen Kirchen stärken. Sexuellen Minderheiten sollen keine weiteren Rechte zugestanden werden und es sollen auch keine Quoten für Schwarze ausgeweitet werden.
Bolsonaro hat kein Interesse an Kompromissen
Für progressiv denkende Menschen ist das ein Horrorszenario. Sie sind nach dieser Wahl nicht nur enttäuscht, sondern regelrecht verstört und verängstigt. Es ist bereits von der Unregierbarkeit Brasiliens die Rede. Denn selbst für den großen Kommunikator Lula, der stets von sich sagt, dass er mit allen reden kann, dürfte es schwer werden, mit Bolsonaros Rechter in einen Dialog zu treten.
Die Bewegung Bolsonaros gleicht auf erstaunliche Weise der Donald Trumps in den USA oder der Querdenkerbewegung in Deutschland. Ihre Anhänger informieren sich nur noch in ihren eigenen abgeschotteten Kanälen, in denen fast täglich neue Verschwörungsmythen gesponnen werden. Sie haben keinerlei Interesse mehr an Kompromissen mit der Gegenseite, die sie als Feind betrachten. Stattdessen provozieren und sabotieren sie, wo es geht.
Die größten Verlierer der Wahl sind daher auch die moderaten Konservativen. Bolsonaros Bewegung hat sich in Brasilien auf Kosten des Mitte-Rechts Lagers zu einer ernstzunehmenden politischen Kraft entwickelt, die weder verschwinden wird, noch unterschätzt werden sollte.
Lula wird den Weg in die Mitte suchen
Lula wird nun versuchen, politisch weiter ins Zentrum zu rücken. Möglich ist, dass er schon bald einen orthodoxen Kandidaten für sein Finanz- und Wirtschaftsministerium vorstellen wird. Er wird sich in den kommenden drei anstrengenden Wahlkampfwochen überlegen müssen, wie er die Enttäuschung der Linken überwinden und Bolsonaros Momentum durchbrechen kann. Dieser hat überraschend in den bevölkerungsreichen und wirtschaftlich starken Bundesstaaten São Paulo und Rio de Janeiro gewonnen.
Anders als erhofft, bedeutet diese Wahl nicht die Umkehr der zerstörerischen vergangenen vier Jahre. Sie verheißt nichts Gutes für Brasiliens Umwelt, seine Ureinwohner und die Demokratisierung der Gesellschaft. Aber auch Brasiliens internationale Rolle dürfte weiter leiden. Das Land ist heute durch die rabiate Außenpolitik und Bolsonaros rücksichtsloses Vorgehen im Amazonas so isoliert, wie seit Jahrzehnten nicht.
Noch ist die Wahl in Brasilien nicht entschieden
Lula wollte das ändern. Die EU wäre auch sofort bereit, wieder mit ihm in einen Dialog zu treten, um über den Amazonasschutz, die Menschenrechte sowie das auf Eis liegende Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten zu sprechen. Sollte Lula nun am Ende doch noch knapp gewinnen, dürfte er innenpolitisch so beschäftigt sein, dass die Außenpolitik eine Nebenrolle spielen wird.
Brasilien schreitet mit der Wahl weiter rückwärts. Viele Wählerinnen und Wähler haben offenbar keine Probleme mit Bolsonaros Angriffen auf Wissenschaft, Kultur, Umwelt, Bildung, die Ureinwohner und die Demokratie - im Gegenteil, sie scheinen sie zu befürworten. Man mag sich kaum ausmalen, wohin Brasilien treibt, wenn Bolsonaro in drei Wochen - eventuell mit dem Rückenwind der aktuell positiven Wirtschaftsdaten - doch noch gewinnen sollte.