Mein liebstes Wunderkind
12. Februar 2010
Je jünger, desto genialer
So ganz neu ist das nicht. Auch der damals siebzehnjährige Benjamin Lebert wurde mit seinem Debütroman "Crazy" 1999 schon als "Wunderkind" und "Generations-Stimme" beklatscht. Denn die deutsche Liebe zum quasi vom Himmel gefallenen, möglichst jugendlichen "Genie", dem spielerisch zuzufallen scheint, wofür andere sich schweißtreibend abrackern müssen, ist hartnäckig und weiterhin ungebrochen. Dafür bürgen auch immer pompösere Jubiläumsfeiern für bereits verstorbene "Wunderkinder" wie Goethe, Mozart oder Schiller, für die schon damals die Regel galt: desto jünger, umso genialer. Mozart wurde mit sechs Jahren als Klaviervirtuose entdeckt, Schiller durch seine "Räuber" mit 22 Jahren zum Theaterstar. Und Goethe gelang - 25jährig - als "Werther"-Autor der literarische Durchbruch.
Der geniale Künstler als gesellschaftlicher Tabubrecher
Doch um von deutschen Kritikern als "Genie" wahrgenommen zu werden, reichte es auch damals schon nicht aus, nur kreativ begabt und jung zu sein. Man musste als genialer Künstler zusätzlich etwas Rotziges an sich haben. Das hat seinen Ursprung in der Definition des Genie-Begriffs, den der Dichter Gottfried Herder maßgeblich in seinem programmatischen Shakespeare-Aufsatz von 1773 geprägt hat. Darin legte Herder fest, dass das kreative Genie niemandem außer sich selbst gegenüber verantwortlich ist, beziehungsweise: nur seiner göttlichen Berufung zur Kunst. Das aber bedeutet umgekehrt: niemand und nichts darf demnach die Freiheit eines künstlerischen Genies behindern, dessen Werk absolute ästhetisch Autonomie genießt. Vom genialen Künstler zum gesellschaftlichen Tabubrecher war es da nur noch ein kleiner Schritt.
Im Geniekult zählt die wilde Pose
Wer als deutsches Kunst-"Genie" (beziehungsweise: "geniales" Wunderkind der Kunst) auf sich hält, der pflegt darum nicht nur traditionell seinen Jugendbonus, sondern gibt auch gern den wilden Rebellen, der Tabugrenzen überschreitet. Schon Mozart liebte extravagante Auftritte und schockierte sein Publikum mit ausgefallenen Kostümen und Perücken. Schillers Theaterstück "Die Räuber" provozierte, indem es die herrschende Ständeordnung rundweg in Frage stellte. Und auch Goethes Werther-Roman galt als höchst skandalös. Schließlich schreibt hier ein junger Mann einem anderen jungen Mann offenherzig Klagebriefe über seinen Liebeskummer – ein nach damals herrschender Konvention völlig unmännliches Verhalten.
Tabugrenzen gesucht
Wo die Tabus schwinden, wird es natürlich schwieriger, gegen sie öffentlichkeitswirksam zu verstoßen. Von daher müssen sich heutige deutsche "Wunderkinder" der Literatur schon etwas mehr einfallen lassen als nur schrille Klamotten oder eine männliche Brieffreundschaft im Roman. Nachdem Benjamin Lebert schon über Sex und Drogen im Schüler-Internat schrieb und Charlotte Roche zuletzt in "Feuchtgebiete" auch vor der Beschreibung eher unappetitlicher Körpervorgänge nicht zurückschreckte, hält sich nun auch Helene Hegemann an die bewährte Devise, möglichst "Bad girl"-mäßig rüberzukommen. In ihrem Debütroman "Axolotl Roadkill", der von der sechzehnjährigen Mifti handelt, kursieren nicht nur harte Drogen und gibt es Sex am Club-Tresen, sondern wird auch lapidar die Vergewaltigung eines sechsjährigen Jungen geschildert. Very hard stuff also auch hier. Doch ist das schon geniale Literatur? Gar ein Tabubruch? Fast hat man den Eindruck, als wäre nicht so sehr der doch relativ kalkuliert wirkende Roman von Hegemann das erstaunliche Phänomen. Vielmehr könnte es sich um die neu erwachte deutsche Kritikersehnsucht nach der Entdeckung eines wilden, rotzigen Wunderkinds handeln.
Autorin: Gisa Funck
Redaktion: Sabine Oelze