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Politik

Mein Europa: Polarisiere dich, Europa!

Andrey Raychev
16. Februar 2018

Es kriselt in der EU - im Süden, im Westen, im Osten. Das Problem ist hausgemacht: Die EU leidet an einem Defizit klarer Ziele. Engagierte EU-Bürger können das ändern, glaubt Andrey Raychev.

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Andrey Raychev Soziologe aus Bulgarien
Andrey Raychev, Soziologe aus Bulgarien Bild: BGNES

Soweit ich zurückdenken kann, läutete der EU das Totenglöckchen: "Die Mitgliedsländer werden sich über den Stahl zerstreiten." "Die EU wird am Streit über die Fischfangquoten  zerbrechen." "Europa geht an der Migration zugrunde." Das Lamento ist alt. Doch es wird immer lauter.

Als Osteuropäer kenne ich dieses Grundmotiv auch aus einer anderen Richtung: Vor 30, 40 oder 50 Jahren hat Moskau die Europäische Gemeinschaft tagtäglich zu Grabe getragen. Nach einer kurzen Unterbrechung tut der Kreml das heute wieder. Schon damals hatten viele Bulgaren und andere Osteuropäer diesen Unkenrufen Glauben geschenkt. Heute tun sie es wieder.

Das stets gleiche Lamento erzeugt bei vielen Europäern das Gefühl, dass etwas "nicht in Ordnung" sei. Dieser Eindruck ist nicht vollkommen falsch. Ich halte es in dieser Hinsicht mit einem geflügelten Wort "Dass man einen Verfolgungswahn hat, heißt nicht, dass man nicht verfolgt wird." Übertragen auf die EU: Das Gerede von ihrem nahen Tod ist Unsinn. Trotzdem hat die Union ein Riesenproblem.

Zuviel Konsensus, zuwenige Ziele

Wir kennen seit langem Probleme im Süden der EU: die Schuldensituation in Griechenland, Italien, Spanien und Portugal (hoffentlich nicht bald auch in Frankreich). Im Westen hat sich die EU in Form des Brexits gerade eine herbe Wunde zugezogen. Und im Osten juckt es an vielen Stellen: in Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei. Kränkelt die EU also ernsthaft? Nein, nicht wirklich. Sie leidet nur an übergroßem Konsens, ebenso wie an einem Defizit klar definierter Ziele.

Sowohl "Konsens" als auch "Ziel" sind Zukunftsbeschreibungen, also Kernelemente des Politischen. Doch beide unterscheiden sich fundamental. Ein Ziel beschreibt das, was sein sollte. Der Konsens hingegen umreißt, was auf keinen Fall sein sollte. Das Ziel weist auf eine übersichtliche Zukunft, erzeugt aber nur ein flüchtiges "Wir". Während der Konsens, umgekehrt, auf eine ungenau definierte Zukunft verweist, dafür aber ein dauerhaftes "Wir" erzeugt.

Flaggen vor dem Europäischen Parlament Handelsausschuss Symbolbild
Europa braucht frischen Wind - und engagierte BürgerBild: Picture-alliance/dpa

In dieser Optik wird eines plötzlich klar: In der heutigen EU leben wir nicht so, wie wir sollten, sondern nur so, wie wir können. Die Krise erschüttert nicht das ganze liberale Fundament (die Ideen von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, individueller Verantwortung), sondern nur einen Teil der liberalen Übereinkünfte. Und die sollte man pflegen, auf ihrer Grundlage das gemeinsame Haus putzen, lüften, neu möblieren.

Schwarz oder weiß - keine Grautöne

Im Angesicht jeder neuen Krise suchen wir aus Gewohnheit Schutz in der Illusion, dass wir zunächst lange nachdenken und diskutieren müssen, um dann zwangsläufig eine richtige Entscheidung zu treffen - derzeit etwa beim Flüchtlingsproblem. Doch bei diesen Debatten bewegen wir uns keinen Zentimeter nach vorne. Denn wir diskutieren nur darüber, was wir nicht tun sollten - und nicht, was wir sollen. Diese fruchtlose Suche nach einem negativen Konsens untergräbt das europäische Fundament, sie erzeugt eine tiefgreifende Skepsis. Dadurch entsteht das um sich greifende Gefühl, Europa sei chronisch krank und ohne jede Überlebenschance.

Darum müssen wir mit der negativen Konsenssuche endlich aufhören. Wir brauchen das genaue Gegenteil: Wir brauchen Polarisierung. Wir brauchen polarisierende politische Optionen, die wir abwägen können - und nicht das ewige Bestreben, eine alle zufriedenstellende (und letztlich doch nur halbe) Lösung zu finden. Wir sollten uns zum Beispiel entweder für die Atomenergie oder gegen sie entscheiden - und nicht andauernd das Problem hinter einem Energiemix-Gerede verschwinden lassen. Also sollten wir uns auf eine politische Entscheidung und nicht auf das ewige "einerseits / andererseits" der Experten verlassen.

Ein neues Zukunftsbild muss her

Ich bin weit davon entfernt, die "larmoyanten Liberalen" zu geißeln und für entscheidungsfreudige, zielstrebige Macho-Führer zu werben. Die EU ist ein Bund für eine gemeinsame Zukunft, sie definiert sich ausschließlich über ihre gemeinsame Zukunft. Das Problem dabei: Gerade diese Zukunft ist in einer Krise. Und eine kranke Zukunft kann man nur durch ein neues Zukunftsbild heilen.

Symbolbild Das Herz Europas EU Parlament Straßburg Skulptur
"Das Herz Europas" - so heißt diese Skulptur vor dem EU-Parlament in StraßburgBild: DW/B.Riegert

Wo müssen wir ansetzen? Ganz klar: bei der politischen Macht, bei der zentralen politischen Macht. Stellen wir uns eine allgemeine, direkte europäische Präsidentenwahl vor, an der sich hunderte Millionen EU-Bürger beteiligen. Durch diese Wahl könnten die Bürger einen direkten Einfluss auf den künftigen Präsidenten und damit auch auf die politische Macht ausüben. Und wenn sich die Europäer endlich zu der Frage der übernationalen politischen Macht geäußert haben, dann werden sie auch automatisch die Verantwortung für die künftige EU-Politik mittragen. So entsteht eine heilende Polarisierung, ein Sog, der die unübersichtliche, realitätsferne und stets lamentierende EU-Bürokratie durch wirkliche Machtverhältnisse ersetzt.

Europa braucht frische Luft

Und wenn wir einmal dieses neue Machtzentrum erzeugt haben, dann werden wir sein Handeln - und nicht wie bislang nur seine Vorhaben - beobachten, diskutieren und beeinflussen können. Denn bislang strebten wir Frieden vor dem Konflikt an. Dabei wäre der umgekehrte Weg viel fruchtbarer: erst die Konfrontation, dann die Verständigung.

Ob die Bürger schon soweit sind, dies einzusehen? Da bin ich auch skeptisch. Europa muss es aber versuchen. Hätten sich die Vereinigten Staaten von Amerika einst nicht für einen Präsidenten, sondern für eine zwischenstaatliche Kommission entschieden, wären die USA schon längst untergegangen.

Also, liebe europäische Mitbürgerinnen und Mitbürger: Wir brauchen keine Medizin. Europa ist nicht krank. Was wir brauchen, ist eher frische Luft. Und vor allem sollten wir uns die eigene Zukunft geben. Die EU ist eine historische Errungenschaft und die einzige positive Perspektive für hunderte Millionen Menschen. Sie ist nur von sich selbst überholt worden und muss nun nachziehen - nicht zögerlich, sondern entschieden.

Andrey Raychev ist bulgarischer Philosoph, Soziologe und Buchautor. In Bulgarien ist der streitbare politische Analytiker auch bekannt als TV-Kommentator. Er ist außerdem regelmäßiger Studiogast in den Radiosendungen von BBC-Russisch.