Den Guten geben, den Bösen nehmen?
5. Mai 2018Auf dem Höhepunkt der griechischen Massenproteste gegen Einsparungen in der Euro-Krise fragte ich eine junge Griechin, warum sie so empört sei. Wir schrieben das Jahr 2011.
Sie werde ihre Rente verlieren, sagte sie. Ich meinte mich verhört zu haben, denn sie war erst 36 Jahre alt. Aber doch, sie bekam einen vierstellige monatliche Waisenrente, weil ihr Vater nicht mehr lebte und sie nicht verheiratet war und nicht arbeitete. Sie hatte auch nicht vor, ihren Lebensgefährten zu heiraten - sonst würde sie ja die Rente verlieren. Von mir erwartete sie Mitleid und Solidarität, und von der EU einen Erlass der Staatsschulden ohne Einsparungen.
Ich bin aber aus Ungarn und konnte nicht verstehen, wie Menschen, die so viel haben, so viel klagen können. Oder wie ein Staat, der kein Geld hat, auf Pump so großzügig sein kann. Bei uns - nicht nur in Ungarn, sondern überhaupt in den Ländern Ostmitteleuropas - verdiente man damals im Durchschnitt 500 Euro im Monat, wenn man hart arbeitete. Und irgendwie war der Staat trotzdem nicht total verschuldet.
Der damalige Ministerpräsident der Slowakei sagte denn auch bei den Diskussionen in Brüssel über diverse Rettungspakete für Griechenland: Es sei den Menschen in seinem Land nicht vermittelbar, warum sie, die viel weniger verdienten und viel weniger Sozialleistungen erhielten als die Griechen, diesen Geld zuschießen sollten.
Erst die Werte, dann das Geld
Etwas Ähnliches hat die EU-Kommission jetzt vor: Sie will Ländern wie Ungarn, der Slowakei oder Polen, die relativ arm sind, aber solide wirtschaften, Geld wegnehmen, um es reicheren, aber verantwortungsloseren Ländern wie Griechenland, Italien oder Spanien zu geben. Es ist die Perversion des europäischen Grundgedankens, dass wirtschaftliche Konvergenz auch eine Konvergenz in den Werten der Gesellschaft bewirken wird. Doch jetzt soll es umgekehrt werden: erst die Werte, dann das Geld.
Statt wie bisher die Länder mit den niedrigsten BIP-Werten zu stützen, sollen Mittel künftig nach Maßgabe "rechtstaatlicher Standards" und "Solidarität" in der Flüchtlingskrise vergeben werden. Guy Verhofstadt, Chef der Liberalen im EU-Parlament, geriet ganz außer Rand und Band auf Twitter: Kein Geld ohne Einhaltung europäischer Werte! Und nannte mehrfach Ungarns Ministerpräsident Orbán beim Namen als einen derer, gegen die der Reformplan offensichtlich gerichtet ist. Orbán erwiderte in seinem wöchentlichen Radio-Interview: Immer mit der Ruhe! "Ohne Ungarns Zustimmung wird es sowieso kein Budget geben."
Ein Druckmittel gegen die Erfolgreichen
Polen, Ungarn und die anderen Länder des früheren Ostblocks haben seit ihrem EU-Beitritt enorme Aufholarbeit geleistet. Teilweise dank der EU-Gelder, vor allem aber weil sie - wie Deutschland - zumindest unter ihren gegenwärtigen Regierungen solide wirtschaften. In Ungarn sind die Staatsschulden seit 2010 von 82 Prozent auf 70 Prozent gesunken. Das Sozialprodukt wuchs seit 2004 von 50 Prozent des EU-Durchschnitts auf knapp 70 Prozent. Die Slowakei und vor allem Tschechien sind noch näher dran am EU-Durchschnitt. Seit 2012 wachsen die Wirtschaften in Ostmitteleuropa dynamischer als im Rest der EU. Irgendwann werden diese Länder Netto-Zahler sein in der Union, keine Bettler mehr.
Insofern werden die Kohäsionsfonds mittelfristig an Bedeutung verlieren. Sowieso: Niemand in der Region will dauerhaft vom Geld der Deutschen und anderer Nettozahler leben - anders als die sonnigeren Länder am Mittelmeer.
So erlebt man die Debatte hier relativ gelassen, was das Geld betrifft. Man versteht es als Versuch der EU, die fortdauernde Krise der Eurozone zu mildern, indem man den Geld-Verbrennern in Südeuropa mit noch mehr Geld unter die Arme greift. Und als Versuch, sich ein Druckmittel zu gönnen gegen Länder wie Ungarn oder Polen.
Weil diese, so heißt es, EU-Werte verletzen und damit den Zusammenhalt der EU als ganzes gefährden. Oder, aus ungarischer oder polnischer Sicht: Weil diese Länder es wagen, andauernd die Sinnfrage zu stellen. Ist es sinnvoll, so viele Migranten nach Europa zu lassen? Ist es sinnvoll, sie überall verteilen zu wollen? Ist es sinnvoll, den Nationalstaaten immer mehr Souveränität abpressen zu wollen?
Weniger EU-Geld kann auch ein Vorteil sein
Ungarns linksliberale Regierung der Jahre 2002 bis 2010 hat damals das Land zugrunde gewirtschaftet, aber immer schön die europäischen Sprüche nachgebetet: mehr Solidarität, mehr Europa. Die damalige Misswirtschaft würde nach den jetzt vorgeschlagenen neuen Regeln wohl mit großzügigen Strukturfördermitteln belohnt. Die viel vernünftiger wirtschaftende Regierung Orbán hingegen dürfte mit dem Entzug von Geldern bestraft werden.
Aber gut: Sowieso wird heißer gekocht als gegessen, am Ende wird wohl ein Kompromiss stehen, der niemandem wehtut. Wie viele Ungarn wünsche ich mir übrigens, die EU möge uns die Gelder wie geplant entziehen. Es würde ihre Einflussmöglichkeiten drastisch verringern, die tatsächlich problematische Korruption reduzieren, die Wirtschaft zwingen, innovativer und effizienter zu werden, und insgesamt den Emanzipationsprozess der Mitteleuropäer innerhalb der EU beschleunigen. Manchmal ist weniger auch mehr.
Boris Kálnoky, Jahrgang 1961, berichtet als Ungarn-Korrespondent mit Sitz in Budapest für die Tageszeitung "Die Welt" und andere deutschsprachige Medien. Er ist Autor des Buches "Ahnenland" (Droemer 2011), in dem er sich auf die Spuren seiner Vorfahren begibt - unter anderen der k.u.k. Außenminister Gustav Kálnoky.