Mein Europa: Bevor die Flamme der Propaganda entfacht wird
23. Juni 2017Ich bin in Gdansk, zu deutsch Danzig, geboren. Alle Danziger tragen die Tragik der Geschichte mit sich. Vor 50 Jahren tönten die damals im Dienste der kommunistischen Propaganda stehenden Medien von morgens bis abends, dass meine Heimatstadt seit jeher polnisch wäre. Als Kind glaubte ich gerne daran. Aber als ich die ersten Buchstaben kennenlernte, habe ich festgestellt, dass in meinem angeblich seit jeher polnischen Haus die Regler an den Heizkörpern und die Wasserhähne mit den etwas komisch klingenden Worten "kalt - warm" versehen waren. Auch am Briefkasten stand die deutsche Inschrift "Briefe". Altmodisch gekleidete, ältere Damen sprachen auf dem Rückweg von der Kirche eine merkwürdige Sprache - später erfuhr ich, dass man sie "Plattdeutsch" nennt.
Ich will keineswegs damit sagen, dass Danzig immer deutsch war, so wie es zunächst die preußische und später die Nazi-Propaganda darstellte, und genausowenig - wie die kommunistische Propaganda - dass Gdansk eine ewig polnische Stadt war. Nein, die Geschichte ist komplexer und gleichzeitig faszinierend.
Ein Kult der Freiheit, jenseits aller Nationalismen
Wir, die jungen rebellierenden Oppositionellen der 1980er-Jahre, haben diese beiden nationalistisch motivierten Narrative abgelehnt. Stattdessen vertieften wir uns in die Bücher der Danziger: die Memoiren der Mutter Arthur Schopenhauers, die Romane von Günter Grass, die Essays von Hermann Rauschning - insbesondere seine "Revolution des Nihilismus" - und die Bücher von Paweł Huelle und Stefan Chwin. Wir fühlten uns eher als Danziger aus der freien Stadt Danzig. Denn jener Kult der Freiheit, jenseits von allen Nationalismen, von der Hansa bis zu Solidarnosc und Lech Walesa, war für uns am wichtigsten. Er wurde ein Teil unserer Identität.
Ich erinnere daran, um daraus eine Schlussfolgerung zu ziehen: Immer, wenn man Geschichte politischen Ingenieuren überließ, die die Vergangenheit nach ihren politischen und nationalistischen Gesichtspunkten formten, hat das die Polen und die Deutschen voneinander entfernt, verfeindet und ins schlimmste Unglück geführt.
Deswegen war die Geste von Tadeusz Mazowiecki und Helmut Kohl vom November 1989 in Kreisau so wichtig: ein Abbild der deutsch-französischen Versöhnung von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer. Sie eröffnete das seit Jahrhunderten erste nicht-konfrontative Kapitel in den deutsch-polnischen Beziehungen und ermöglichte den "Heroismus der Versöhnung", wie das Erzbischof Alfons Nossol, der emeritierte Oberhirte von Oppeln, formulierte. Ein Heroismus, der vor mehr als 50 Jahren mit dem Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder und den Worten begann: "Wir vergeben und bitten um Vergebung".
Die Hüter des Erbes von Kohl und Mazowiecki
Mein Onkel Franciszek Baranowski, Ehemann meiner Tante Klara, ist von Schwetz in Pommern in das Generalgouvernement geflohen, um der Zwangsrekrutierung durch die Wehrmacht zu entgehen. Seine beiden jüngeren Brüder sind dagegen in deutschen Uniformen an der Ostfront gefallen, erschossen von russischen Soldaten. Es ist eine der Familiengeschichten, die in Pommern an der Tagesordnung waren. Ich erwähne sie nicht ohne Grund. Denn man kann sie für politische Ziele missbrauchen und anti-deutsche Ressentiments schüren, indem man aus einer Biografie einen Großvater in Wehrmachtsuniform ausgräbt. Oder man kann es so machen, wie es seit Jahren die Nominierten und Preisträger des Tadeusz-Mazowiecki-Journalistenpreises tun, indem sie mühevoll die deutsch-polnischen Schicksale erklären und die menschlichen Tragödien aus den grenznahen Regionen erzählen - aus Masuren, der Kaschubei, aus Pommern, Großpolen oder Schlesien. Damit schaffen sie schließlich ein Klima des Vertrauens, der Vergebung und Versöhnung.
Institutionen wie der Tadeusz-Mazowiecki-Journalistenpreis, bis vor kurzem auch das Museum des Zweiten Weltkriegs, die Stiftung Kreisau für die Europäische Verständigung, und nicht zuletzt die unabhängigen Medien: Sie alle sind die Hüter des Erbes, das ihnen von zwei großen Europäern und christlichen Demokraten hinterlassen wurde: Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki und Bundeskanzler Helmut Kohl.
Wir Danziger kennen uns mit der Tragik der Geschichte besonders gut aus
Ohne diese Institutionen, ohne freie Medien, die bald - sollte die Entscheidung fallen - "re-polonisiert" werden sollen, wird es sehr einfach sein, die Flamme der anti-deutschen Propaganda zu entfachen. In Polen kennt man sie aus der Zeit Wladyslaw Gomulkas und des Briefs der polnischen Bischöfe an ihren deutschen Amtsbrüder. So wie man damals Konrad Adenauer im Kreuzritter-Mantel mit Krallen nach den Gebieten im Westen Polens greifend darstellte, werden heute auf den Titelseiten mancher regierungsfreundlicher Zeitschriften Bundeskanzlerin Angela Merkel oder EU-Ratspräsident Donald Tusk in - vorsichtig ausgedrückt - nationalsozialistischer Stilistik abgebildet.
Wenn unsere gemeinsame, tragische Geschichte wieder zur Geisel der Politik wird, vergeuden wir auf unverantwortliche Weise die Früchte jenes Dialogs, den unsere Väter noch lange vor 1989 begonnen haben. Wir vergeuden die Bemühungen jener, die persönliche Gründe hatten, das ihnen zugefügte Leiden nicht zu vergeben - und dies dennoch taten, im Namen der gemeinsamen Zukunft. Man nenne hier nur Władysław Bartoszewski, Stanisław Stomma, Mieczysław Pszon, Jan Nowak-Jeziorański, Karl Dedecius, aber auch Marion Gräfin Dönhoff, Willy Brandt und viele andere.
Wir Danziger kennen uns mit der Tragik der Geschichte besonders gut aus. Dazu gehört auch das Bewusstsein dafür, dass sich die schlimmsten Verbrechen wiederholen können, die ein Mensch an einem anderen verübt. Dass der Frieden, die Demokratie, die europäischen Werte, die Toleranz, die menschliche Solidarität jene Werte sind, um die man sich immer sorgen und die man immer schützen muss.
Der polnische Journalist Jaroslaw Kurski ist stellvertretender Chefredakteur der liberalen Tageszeitung "Gazeta Wyborcza". In den 1980er-Jahren war er im antikommunistischen Untergrund tätig. 1989-1990 war er Pressesprecher des Solidarnosc-Vorsitzenden Lech Walesa. Sein Bruder Jacek Kurski dagegen war national-konservativer Politiker und wurde im Wahlkampf von 2005 berühmt, als er dem damaligen Präsidentschaftskandidaten Donald Tusk vorgeworfen hat, dass sein Großvater in der Wehrmacht gewesen sei. Tusk verlor damals das Rennen den national-konservativen Kandidaten Lech Kaczynski.
Der Text ist eine leicht gekürzte Fassung der Rede von Jaroslaw Kurski bei der Verleihung des Tadeusz-Mazowiecki-Journalistenpreises in Zielona Gora (Grünberg).