Mein Deutschland: Scheiden tut so weh!
15. Oktober 2015Es ist Sonntag, offiziell unser letzter Sonntag zu viert. Mein ganzer Ehrgeiz besteht darin, nicht vor ihr zu heulen - ihre Vorfreude auf das aufregende Uni-Leben möchte ich auf gar keinen Fall trüben. Merkwürdig, wohin einen die Erinnerung treibt - auf einmal fällt mir ein Lied von Heintje ein, das ich vor rund 30 Jahren in China gehört hatte. "Scheiden tut so weh!" heißt das schnulzige Lied, über das ich früher immer geschmunzelt habe. Aber in diesem Moment ist es die reinste Melancholie.
"Welche Musik möchtet ihr zum Frühstück hören?" frage ich meine Töchter. "Die CD, die wir in Freiburg gekauft haben!" sagt die 11-Jährige. Es war eine lateinamerikanische Band, die an einem ebenso sonnigen Sonntag wie diesem einen Platz im Freiburger Zentrum in eine Tanzfläche verwandelte. So fröhlich und ausgelassen hatte ich die Badener nicht eingeschätzt. Nun hören wir wieder diese Musik und schwelgen in schönen Erinnerungen. Ich kann nicht mehr genau sagen, die wievielte Station Freiburg auf unserer Reise durch Deutschland war - auf der Suche nach der passenden Universität und der Stadt, in der meine große Tochter die nächsten Jahre ihres Lebens verbringen möchte.
Dabei war ich diejenige, die sie von Anfang an ermutigt hat, Köln zu verlassen. "Nutze die Gelegenheit und lerne fliegen. Du wirst es nie bereuen", war mein heldenhafter Spruch. Nicht nur weg von zu Hause, sondern weit weg - für die Rheinländer am besten in den Süden, habe ich aus der Biographie von Konrad Adenauer gelernt. "Geh nach Baden-Württemberg oder Bayern, um Jura zu studieren", riet ihr auch unser Zahnarzt.
Die Qual der Wahl
Auf der Reise haben wir das deutsche förderale System kennen- und schätzengelernt. Es wimmelt von guten Universitäten, die sich nur in Nuancen unterscheiden. In China gibt es einige wenige Eliteuniversitäten. Hinzu kommt das pragmatische Denken der Chinesen - wenn sich vor der Haustür zufällig eine Top-Universität befindet, zieht der angehende Akademiker nicht extra in eine andere Stadt. Um wirklich selbständig zu werden, musste ich später 8000 Kilometer gen Westen fliegen. Heute dämmert es mir, was ich meinen Eltern angetan habe.
Nun bin ich heilfroh, dass sich meine Tochter für eine Stadt in Nordrhein-Westfalen entschieden hat. Weit genug, um auszuziehen; nah genug, um ab und zu im Hotel Mama vorbeizuschauen. Vor ein paar Tagen habe ich noch mit einer Freundin gescherzt, dass mit dem Eröffnen des Mama-Hotels immerhin die private Kantine geschlossen sei. Nun erwische ich mich dabei, nach dem Frühstück doch wieder den Kochlöffel zu schwingen, um ihre Lieblingsgerichte zuzubereiten. Ich muss mich ablenken, um nicht andauernd gegen die Tränendrüse anzukämpfen. Doch dann setzt sie sich ans Klavier und spielt meine Lieblingsetüden von Chopin. Das durchkreuzt meine Selbstkontrolle vollends. Dicke Tränen landen in der Pfanne - muss ich überhaupt noch salzen? Drei Portionen chinesischer Leckereien packe ich in Tupperdosen ein, so muss sie in der fremden Stadt nicht gleich hungern.
Vorfreude auf den neuen Lebensabschnitt
Nachdem wir alles im Studentenwohnheim abgeladen haben, sitzen wir noch eine Weile zusammen in einem gemütlichen Cafe. Es sind auch andere Eltern mit ihren Erstsemestern zu sehen. Ob die deutschen Mütter tapferer sind als ich? Verträumt blinzelt meine Tochter in die Sonne: "Morgen abend ist schon die erste Party der angehenden Juristen und Mediziner. Oh Mama, ich freue mich so!" Ich schließe sie in die Arme: "Dann freue ich mich auch."
Zumindest für diesen Sonntag ist das eine glatte Lüge. Auf der Rückfahrt nach Köln schaut mich meine jüngere Tochter an und wir fangen beide an, hemmungslos zu weinen. "Das ist der traurigste Tag meines Lebens", wimmert sie. "Zieht sie nach dem Studium wieder bei uns ein?" fragt sie nach einer Weile. "Bestimmt." Nach dieser noch größeren Lüge von mir strahlt die Kleine wieder.
Eine gute Mischung
Die herbstliche Farbpracht zieht an uns vorbei. Ich denke an den ersten Moment ihres Lebens, als mir der Arzt ein vier Kilo schweres Baby auf den Bauch legte. Wie ein rosa Schweinchen sah sie aus! Ich denke daran, wie sie sich mit drei Jahren weigerte, mit mir Chinesisch zu sprechen: "Mama, die ganze Welt spricht Deutsch." Wie sie mit zwölf feierlich erklärte: "Mama, ich glaube, die Pubertät habe ich hinter mir." Das stimmte. In diesem Moment gehörte ihre kurze Phase der innerfamiliären Opposition der Vergangenheit an. Aus mir hat sie eine halbdeutsche und halbchinesische Mutter gemacht. Übersetzt heißt das: Ich gewährte ihr die größtmöglichen Freiheiten, ohne von meinen Bildungsidealen Abstriche zu machen. Und sie selbst ist eine perfekte Kombination von Orient und Okzident. Disziplin gepaart mit viel Lebensfreude.
Für mich ist sie nicht nur eine Quelle der Freude. In der jüngsten Zeit ist sie auch zu meiner wichtigsten Beraterin avanciert. Ich schöpfe nicht nur Themen für meine Kolumne aus ihrem Leben, sie ist auch immer die erste Leserin gewesen. Die Texte redigierte ich so lange, bis sie den Daumen hob. Als ich sie einmal fragte, wie ich die Kolumne ohne sie schaffen solle, sagte sie: "Mama, schicke mir die Texte per Mail. Ich bin weiter für Dich da." Da fällt mir wieder diese Schnulze ein: "Manchmal sitzt du bei mir, und dann sage ich zu dir, dass ich immer im Leben zu dir steh'." Das tu ich auch für Dich, meine Große! Wenn Scheiden nur nicht so weh täte.
Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.
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