Ein Wochenende mit den drei Kostbarkeiten
27. April 2018Ich nenne sie die drei Kostbarkeiten: die Drillinge meines Bruders. Drei auf einen Schlag (zwei Jungen, ein Mädchen) - für mich war das die eleganteste Art, die Vorgaben der chinesischen Familienpolitik zu umgehen. Bisher war es immer eine Aktion, mit ihnen auszugehen - Windeln, Trinkflasche, alles musste dreifach gedacht werden. Nun sind sie endlich in einem Alter, in dem man ohne große Vorbereitung (fast) alles mit ihnen unternehmen kann. Voller Vorfreude habe ich am Freitagabend das Kinoprogramm für Kinder studiert - obwohl bei dem schönen Wetter der Besuch eines Abenteuerparks auch nicht schlecht wäre. Ein Evergreen ist auch der Pekinger Zoo - stundenlang kann man dort den Pandabären beim Toben zuschauen. Oder einfach essen gehen? Vielleicht schaffen wir auch alles hintereinander?
Von wegen Freizeit und Vergnügen
"Tante! Tante!" Die Wiedersehensfreude am Samstagmorgen war grenzenlos. Doch bevor ich sie nach ihren Wünschen fragen konnte, hatten sie schon ihre Schulsachen ausgebreitet. Zwei Seiten Mathe mit je 80 Aufgaben. Darunter Textaufgaben wie die folgende: Ein Bauer hat zwei Körbe mit jeweils sieben Köpfen Chinakohl und 14 Spitzkohl-Köpfen. Die Frage lautet: Wieviele Chinakohl-Köpfe hat er weniger als Spitzkohl-Köpfe? Von den zwei Körben Gemüse auf eine mathematische Formel zu abstrahieren - Für Erstklässler finde ich das ganz schön anspruchsvoll.
"Soll ich kontrollieren?", fragte ich in die beschäftigte Runde. "Du sollst nicht, Du musst!", sagte der Älteste der drei Kostbarkeiten, "sonst ist die Lehrerin böse." Gut, dann eben eine dreifache Kontrolle. Ich bin froh, dass sie erst in der ersten Klasse sind.
Nach Mathe wurden Geschenke aus Deutschland ausgepackt und eine Runde Lego gespielt. Darauf habe ich bestanden. Meine Mutter schimpfte mit mir: "Du lenkst sie nur ab." "Lego fördert die Konzentration", konterte ich. Wobei ich sagen muss, dass sie beim Zusammenbauen von Schiffen und Rettungswagen sogar einen Tick konzentrierter waren als zuvor bei Mathe.
Volles Programm schon für die Jüngsten
Nach dem Mittagessen ging es ans Eingemachte: Chinesisch. Fleißarbeit geht vor: 30 Schriftzeichen abschreiben und 50 Wörter diktieren. Es folgte ein längerer Text über die Schwänze verschiedener Tiere und deren Funktion. Das Vorlesen des Textes und der Fragen war mein Part. Die Kinder mussten aus drei Antworten die richtige ankreuzen. Danach musste sich jeder drei Kurzgeschichten aus einem Kinderbuch aussuchen und laut vorlesen. Die beste Version sollte aufgenommen und der Lehrerin zugeschickt werden. Mein Versuch, dass sie sich alle für dieselben Geschichten entscheiden und wir gemeinsam üben, schlug fehl. Wir gingen von der Gruppen- in die Einzelarbeit über. Wahrscheinlich lag es an meinem hohen Anspruch. Jedenfalls zog es sich hin.
Hier habe ich den wahrscheinlich größten Unterschied zwischen der deutschen und der chinesischen Grundschule festgestellt - Er liegt in der unterschiedlichen Erwartung an den Intellekt der Eltern: Hierzulande ist die Erwartung gleich Null. Jegliche Unterstützung seitens der Eltern ist unerwünscht. Am besten wäre es eigentlich, wenn die Eltern Analphabeten sind, so dass sie gar nicht in Versuchung kommen, sich in schulische Angelegenheiten einzumischen. Traut man den Eltern nicht oder will man so Kindern aus bildungsfernen Familien gleiche Chancen einräumen? Das habe ich bis heute nicht verstanden. In China hingegen müssen Eltern, ob sie es wollen oder nicht, nebenberuflich und unentgeltlich als Nachhilfelehrer fungieren - erst in Mathe, Chinesisch, Englisch, später auch in anderen Fächern. Die Ansprüche steigen mit dem Alter der Kinder. Am besten belegen Paare nochmal Crashkurse in allen Fächern, bevor sie sich an die Fortpflanzung wagen. Bei diesem Gedanken ahnte ich nicht, dass die größte Herausforderung noch auf mich wartete.
Familienforschung in der ersten Klasse
Nach dem Abendessen zeigte mir meine Nichte einen Zettel des Kalligraphielehrers: Mit Hilfe der Eltern sollen die Kinder herausfinden, wie das Schriftzeichen ihres Familiennamens entstanden ist, die Entwicklung des Zeichens nachmalen und in wenigen Sätzen erläutern. Du meine Güte! Nach nochmaligem Lesen habe ich die Aufgabe verstanden und entschieden, mich allein der Herausforderung zu stellen und die Kinder in einen entspannten Abend zu schicken. Hier das Ergebnis meiner Recherche über den Familiennamen von mir und den Drillingen:
"Unsere Vorfahren haben sich zuerst von der Beute durch die Jagd ernährt. Von daher sah 张 (Zhang) in der Hieroglyphenschrift zuerst aus wie ein Schießbogen. In der Zeit der Streitenden Reiche (475 v. Chr. - 221 v. Chr.) haben sich die Zhangs klugerweise von Fußjägern zu Reitjägern entwickelt. Deshalb: links ein Bogen, rechts ein Pferd. In der Tang-Dynastie (618 - 907) hat das Zeichen für Zhang bereits ungefähr die heutige Form."
Kinder glücklich - Eltern im Stress
Diese Sätze habe ich auf Chinesisch verfasst, welche die Drillinge am nächsten Tag abgeschrieben und nachgeplappert haben. Der Rest des Sonntags ging für die Englisch-Hausaufgaben drauf. Wir haben nicht nur keines der von mir angedachten Vorhaben realisiert, wir haben nicht mal die Wohnung verlassen. Einen unglücklichen Eindruck haben sie dabei nicht auf mich gemacht. Spaß hatten sie zwischendurch immer wieder miteinander und dreigeteiltes Leid lässt sich viel leichter ertragen. Erschöpft war eher die Tante, die voller Mitgefühl an andere Eltern dachte: Womit haben sie es eigentlich verdient, dass sie zur Geisel der Schule werden?
Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.
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