Englands Regionalisierung
2. Mai 2018Ein kleines Sozialkaufhaus an der Church Lane in Harpurehey. Geschäftig ziehen drei ältere Damen gebrauchte Kleiderspenden aus großen Säcken und versehen sie mit Preisschildern: Ein Paar Schuhe für drei Pfund, etwa 3,50 Euro. T-Shirts gibt es bereits für weniger als die Hälfte. Für viele in Harpurehey ist das viel Geld. Der Stadtteil von Manchester gehört zu dem halben Prozent der ärmsten Gemeinden Englands. Der Blick in die Statistik zeigt eindrucksvoll die tiefe soziale Spaltung des Landes: Ganz oben im Armuts-Ranking finden sich fast ausschließlich Bezirke in Städten im Norden oder strukturschwachen Küstenorten. Die wohlhabenden liegen dagegen mehrheitlich im Südosten der Insel, vor allem in London.
Jedes dritte Kind in Manchester sei bei der Einschulung nicht bereit für die Schule, schätzt der Bürgermeister von Greater Manchester Andy Burnham. "Wir werden die Zahl von aktuell 12.000 Kindern Jahr für Jahr reduzieren, bis kein Kind mehr zurückgelassen wird." Burnham gehört zu einer Reihe neuer sogenannter "Metro Mayors", die an diesem Donnerstag fast auf den Tag genau seit einem Jahr im Amt sind. In bislang sechs Städteregionen sind sie für Bereiche wie Verkehr, Wohnungsbau und berufliche Bildung zuständig und koordinieren die Zusammenarbeit der einzelnen Kommunen. Durch diese Form der Dezentralisierung gibt es erstmals wieder eine regionale Regierungsebene im zentralistisch regierten England.
Begrenzte Macht
"Das ist ein grundlegender Systemwechsel, auch wenn ihre Macht noch sehr begrenzt ist", sagt Tony Travers, der an der London School of Economics zu Fragen der Regionalisierung forscht. In den vergangenen 50 Jahren mussten Englands Städte immer mehr Zuständigkeiten an London abgeben. Erst seit 2014 steuert die konservative Regierung in London zaghaft um.
Der Schritt war lange überfällig: Schottland, Wales und Nordirland erlangten schon unter der Labour-Regierung in vielen Bereichen Eigenständigkeit. Es entstanden Regionalparlamente in Edinburgh, Cardiff und Belfast, nur in England nicht.
Standortpolitik als Hauptaufgabe
Nachdem die Zentralregierung lange Zeit daran gescheitert ist, die Lebensverhältnisse innerhalb Englands anzugleichen, sollen nun die "Metro Mayors" ihre Regionen attraktiver für die Wirtschaft machen. Für Simon Jeffrey vom Think Tank "Centre for Cities" in London ist das ein Schritt in die richtige Richtung: Fragen der Standortpolitik stellten sich in strukturschwachen Regionen eben anders als im globalen Finanzzentrum London. "Unsere Einheitspolitik hat nie bedacht, um wieviel tiefer der Fall nach der Deindustrialisierung für die Städte des Nordens war", sagt Jeffrey. "Damit wurden Menschen abgehängt."
Nach Berechnungen des "Institute for Public Policy Research" in Manchester hat die Regierung im vergangenen Jahrzehnt weniger als halb so viel Geld pro Kopf in die Infrastruktur Nordenglands investiert als in die Londons. "Die Art, wie wir Macht zentralisiert haben, verzerrt politische Entscheidungen", sagt Direktor Ed Cox. Auch deshalb habe der Slogan "Take back control" der Brexit-Befürworter im Norden einen Nerv getroffen. "Sie bedienten damit ein tiefes Bedürfnis nach mehr Kontrolle über Westminster und all die Schalthebel der Macht, die für die Menschen in Nordengland so fern scheinen."
Barnsley - eine Stadt im Strukturwandel
So stimmten in Barnsley knapp 70 Prozent der Wähler für den EU-Austritt. Die 100.000-Einwohner-Stadt liegt im Kohlerevier von Süd-Yorkshire. In den 1980er Jahren schloss die konservative Premierministerin Margaret Thatcher die Minen und brach damit der lokalen Wirtschaft das Rückgrat. Heute seien Logistikunternehmen und Call-Center die wichtigsten Arbeitgeber, sagt Stadtratschef Stephen Houghton. Das Pro-Kopf-Einkommen ist hier mit rund 21.000 Euro nur halb so hoch wie in London.
Gemeinsam mit den Nachbarstädten Rotherham und Doncaster wählt Barnsley an diesem Donnerstag den "Metro Mayor" der Städteregion Sheffield. Der Schritt soll der strukturschwachen Region mehr Geld und mehr Eigenständigkeit geben und damit die Möglichkeit, einen Teil ihrer Probleme selbst anzupacken, so die Hoffnung.
Doch Stephen Houghton ist skeptisch. 30 Millionen Pfund (34 Millionen Euro) pro Jahr habe die Regierung versprochen. Dabei habe London im Zuge der Sparpolitik der vergangenen Jahre seine Überweisungen an Barnsley und seine Nachbarstädte Sheffield, Rotherham und Doncaster um insgesamt mehr als 700 Millionen Pfund pro Jahr (knapp 800 Millionen Euro) gekürzt – Geld, das nicht nur im Haushalt, sondern auch in der Wirtschaft der Region fehle.
"One Yorkshire" für mehr Einfluss in London
Für Houghton ist deshalb die entscheidende Frage der Dezentralisierung bislang ungelöst: "Wie verändern wir das ökonomische Gleichgewicht zwischen Nord und Süd?" Dazu müssten staatliche Ausgaben in großem Stil in den Norden umgelenkt werden. "Und dafür müssen wir das Kräfteverhältnis zwischen Nord und Süd verändern."
Die Städteregion Sheffield ist Houghton deshalb zu klein. Stattdessen setzt er auf "One Yorkshire", einen Zusammenschluss der 20 Kommunen der historischen Grafschaft Yorkshire mit Leeds als Hauptstadt. Mit über fünf Millionen Einwohnern wäre die Region so groß wie Schottland. "Damit hätten wir endlich die Macht, das Ungleichgewicht zu verändern, das in diesem Land herrscht", glaubt Houghton. Doch die Regierung in London zögert. Aus Angst vor der Größe der Region, vermutet Houghton.
Doch schon jetzt hat die Dezentralisierung eine Entwicklung in Gang gesetzt, die England verändern dürfte. Die neugewählten Bürgermeister geben dem Norden erstmals wieder eine gewichtige Stimme im nationalen Diskurs, der bislang von London dominiert wurde.