Mehr Bomben und mehr Armut in Syriens Nordwesten
23. Dezember 2023Dieser eine Tag Ende November wird Khaled Walid sein restliches Leben verfolgen. Gemeinsam mit den Familien seines Cousins und seiner Cousine war er auf dem Stück Land, das ihnen allen gehört. Sie waren dabei, Oliven zu ernten, als sie plötzlich gegen zehn Uhr morgens in der Umgebung Luftangriffe des Assad-Regimes und Russlands hörten. "Wir hier in Jabal-al-Zawiyeh sind diese Angriffe gewohnt, aber wir haben gedacht, sie wären weiter weg. Doch dann passierte es, ich war nur rund 30 Meter entfernt von meinen Angehörigen. Eine Bombe schlug ein und tötete meinen Cousin, seine vier Kinder und meine Cousine und ihre fünf Kinder."
Der Schock sitzt tief, in Khaled Walids Stimme klingen Trauer und Verzweiflung durch. "Wir konnten nichts mehr für sie tun." Mit der Unterstützung des syrischen Zivilschutzes, die auch als Weißhelme bekannt sind, haben sie die Leichen der Angehörigen geborgen und in einem Gemeinschaftsgrab beigesetzt.
"Wir haben alle Angst, dass wir die Nächsten sein könnten, wenn wir wieder schutzlos auf den Feldern stehen. Aber was sollen wir machen? Die Einnahmen aus der Olivenernte sind unsere einzigen Einkommen. Wir leben davon", sagt der 50-Jährige.
Jabal el-Zawiyeh liegt im Nordwesten Syriens und gehört zum Gouvernement Idlib. Die Provinz Idlib ist die letzte von syrischen Rebellen und Islamisten gehaltene Region. Sie steht überwiegend unter der Kontrolle islamistischer Milizen der Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die wiederum aus der Al-Nusra-Front hervorgegangen ist. Eigentlich herrscht für die Region seit 2020 ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Russland und der Türkei. Die beiden Länder unterstützen gegnerische Seiten in dem Krieg: Moskau steht an der Seite des syrischen Regimes, während Ankara verschiedene Rebellengruppen unterstützt. Doch die Waffenruhe wird immer wieder verletzt.
Assad-Regime und Russland fliegen mehr Luftangriffe auf Nordwesten
Seit Anfang Oktober leiden die Menschen in der Region Idlib wieder vermehrt unter Bombardements durch syrische Regierungstruppen und das russische Militär. Nach Angaben von UN-OCHA, dem Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, das sich wiederum auf lokale Behörden stützt, sollen bis Mitte Dezember mindestens 99 Zivilisten getötet worden sein, über 400 wurden verletzt. Das syrische Regime und sein Verbündeter Russland leugnen Angriffe auf Zivilisten und behaupten, sie zielten auf Standorte militärischer Gruppierungen ab.
Die Angriffe des Regimes gelten als Vergeltungsschlag für eine mutmaßliche Drohnenattacke auf eine Militärzeremonie im syrischen Homs, das unter der Kontrolle von Baschar al-Assad steht. Doch keiner weiß, wer hinter dem Angriff in Homs steckt. Daher lassen sich die Angaben nicht überprüfen.
Der syrische Zivilschutz im Nordwesten berichtet von Angriffen auf Märkte und Krankenhäuser. Auch Edem Wosornu, UN-OCHA-Direktorin der Abteilung Operations and Advocacy, beschreibt die Situation im Nordwesten als dramatisch: "Die Auswirkungen auf zivile Einrichtungen und kritische Infrastruktur waren erheblich: 40 Gesundheitseinrichtungen, 27 Schulen und über 20 Wassersysteme waren von der Gewalt betroffen." Aber die Gewalt bekommen auch Menschen wie Khaled Walids Familie, die ihre Felder bestellen, zu spüren.
"Hier in der Gegend leben fast alle von der Landwirtschaft, die einen haben Feigenbäume, die anderen Olivenbäume. Einige konnten ihre Ernten schon in Sicherheit bringen und gehen seither nicht mehr aufs Feld. Andere trauen sich gar nicht mehr dorthin. Ihnen gehen dann aber auch die Einkünfte verloren. Das ist fatal in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage", sagt Khaled Walid, der mit seiner Frau und seinen vier Kindern in einer kleinen Wohnung in Jabal-el-Zawiyeh lebt.
120.000 Menschen erneut vertrieben
Von den 4,5 Millionen Menschen, die im Nordwesten Syriens leben, sind 2,9 Millionen Binnenflüchtlinge. Etwa zwei Millionen von ihnen leben in Flüchtlingslagern an der Grenze zur Türkei, doch in den Camps mangelt es an grundlegender Versorgung.
Die verschärfte militärische Lage hat zu einem Zustand der Instabilität geführt und eine weitere Runde der Vertreibung nach sich gezogen. Mittlerweile sind nach UN-Angaben 120.000 Menschen innerhalb der Region Idlib geflohen, die meisten in den Norden an die türkische Grenze, in der Hoffnung, dort sicherer zu sein. Dabei ist es genau die Region, die immer noch unter den Folgen des verheerenden Erdbebens vom 6. Februar 2023 leidet.
Der Krieg und die schwierige wirtschaftliche Lage in Syrien haben dazu geführt, dass bereits über 90 Prozent der 4,5 Millionen Menschen im Nordwesten Syriens auf internationale Hilfe angewiesen sind. Angesichts steigender Inflation und wachsender Arbeitslosigkeit stehen die meisten Menschen vor der unlösbaren Herausforderung, ihre grundlegenden Bedürfnisse zu decken. Es mangelt nicht nur an Lebensmitteln, sondern auch an Medikamenten und medizinischer Versorgung. Durch die zunehmenden Bombardierungen können die Menschen, die noch Arbeit haben, nicht mehr regelmäßig zur Arbeit gehen und ihre Kinder auch nicht immer in die Schule schicken.
Welternährungsprogramm stellt seine Nahrungsmittelhilfe in Syrien ein
Organisationen vor Ort kommen kaum noch nach, den Menschen zu helfen. Und nun endet das Jahr auch noch mit einer zusätzlichen schlechten Nachricht: Aufgrund erheblicher finanzieller Engpässe sieht sich das UN-Welternährungsprogramm (WFP) gezwungen, ab dem kommenden Jahr seine Nahrungsmittelhilfe in ganz Syrien einzustellen.
Diese Tatsache trifft besonders die Menschen in den Flüchtlingslagern im Nordwesten hart, die sich auf einen bevorstehenden kalten Winter vorbereiten müssen. "Das WFP wird aber weiterhin landesweit von Notfällen und Naturkatastrophen betroffene Familien durch kleinere, zeitgebundene und gezieltere Notfalleinsätze unterstützen", schreibt Ross Smith, stellvertretender WFP-Landesdirektor in Syrien, der DW auf eine Anfrage.
"Darüber hinaus wird das WFP weiterhin Kinder unter fünf Jahren sowie schwangere und stillende Mütter durch Ernährungsprogramme unterstützen, Schulspeisungsprogramme und auch Bauernfamilien fördern." Dennoch befürchtet Ross, dass es durch die Beendigung der generellen Nahrungsmittelhilfe unter anderem auch zu einer Zunahme von Unterernährungen kommen wird.
Khaled Walid will nicht auf ein Hilfsprogramm angewiesen sein. Er will weiterhin sein Land beackern und davon leben. "Wir haben ständig Angst, aber wir haben keine Wahl."