Mehr als ein Auslandsstudium
12. Juni 2012
Warum sie ausgerechnet nach Berlin gekommen ist? Diese Frage möchte sich die Doktorandin Keren Avirame für später aufheben. Denn so einfach sei die Antwort nicht. Leichter hingegen falle es ihr, zu beschreiben, was sie an der deutschen Hauptstadt mag: "Eine offene Stadt, hier ist alles möglich, unabhängig von Status oder Geld, ganz anders als in Israel."
Keren Avirame wohnt seit über einem Jahr in Berlin, sie forscht für ihre Doktorarbeit in der neurowissenschaftlichen Abteilung des renommierten Universitäts-Krankenhauses Charité. In erster Linie haben sie die sehr guten Studienbedingungen und die modernen Forschungslabore nach Berlin gelockt. Dennoch fiel es ihr anfangs ziemlich schwer, sich einzugewöhnen.
"Das hat weniger damit zu tun, dass ich Jüdin bin, sondern damit, dass die deutsche Mentalität so anders ist", sagt sie. Berlin sei eine Stadt der Langsamkeit. Das gelte für alle Lebensbereiche: Restaurant, Straßenverkehr und auch zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Leute ließen sich unglaublich viel Zeit. Ganz anders als Tel Aviv, wo alles viel hektischer sei. "Mittlerweile genieße ich aber diesen gemütlichen Rhythmus", sagt Keren.
Versöhnung mit der eigenen Familiengeschichte
Berlin gilt derzeit weltweit als DIE Studentenstadt: billige Mieten und Lebenshaltungskosten, gute Studienbedingungen und ein berühmt-berüchtigtes Nachtleben. Jüdische Studierende der dritten Generation nach dem Holocaust zieht aber auch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der eigenen Familiengeschichte nach Berlin, bewusst oder unbewusst. So hat sich die Zahl der Studenten aus Israel, die nach Berlin kommen, in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt.
Als Jüdin fühlt sich Keren Avirame trotzdem manchmal allein, wie in einer Ausnahmesituation. Das bekomme sie vor allem in ihrem Studienalltag zu spüren. "Ich werde nicht wie andere Auslandsstudenten aus beispielsweise den USA oder Italien behandelt. Die Beziehung zwischen mir und den Deutschen ist vorbelastet." Das meint Keren Avirame gar nicht negativ oder wertend. Sie nimmt es einfach nur wahr, fast mit wissenschaftlicher Neugier.
"Ein Schuldgefühl ist bei den Deutschen eigentlich immer zu spüren, ob es nun ausgesprochen wird oder nicht." Dabei findet sie es sehr schade, dass es so schwierig sei, über den Holocaust zu reden. "Die Schuld ist ein Totschlagargument - einmal ausgesprochen, ist jede Diskussion beendet."
Und doch: Es sind die Verbrechen an den Juden und damit an ihren Vorfahren, die die Doktorandin letztendlich nach Berlin gebracht haben. Der Holocaust war eine radikale Zäsur in ihrer Familie. Ihre Großeltern flohen noch gerade rechtzeitig in den 30er Jahren aus Polen, Rumänien und Jugoslawien ins damalige Palästina. Viele Fragen, die Keren an sie hatte, blieben unbeantwortet. Über die eigene Geschichte wollten die Großeltern nicht sprechen. Keren ist nun bereit für die Frage, warum sie nach Berlin gekommen ist. "Ich glaube, dass ich mich in Berlin ein wenig mit Vergangenheit aussöhne", sagt Keren Avirame und bemerkt dabei eine paradoxe Entwicklung: "Ich fühle mich in Berlin viel jüdischer als in Israel, gehe sogar hin und wieder in die Synagoge."
Studenten mit Kippa und Kopftuch
Der Zuzug von israelischen Studenten nach Berlin macht sich auch in der Hochschullandschaft bemerkbar. Es gibt neue Bildungseinrichtungen - wie das Touro-College im Westen von Berlin, idyllisch gelegen mit Blick auf das Havel-Ufer. Seit 2003 können Studenten an der jüdisch-amerikanischen Privathochschule Betriebswirtschaftslehre studieren. In Berlin gibt es außerdem eine jüdische Kindertagesstätte, sowie eine Grund- und Oberschule.
Wer am Touro-College studiert, bekommt aus Sicherheitsgründen eine Magnetkarte, um das Eingangstor zu öffnen. Doch anders als bei jüdischen Einrichtungen in Berlin sonst üblich, gibt es keinen Polizeischutz und auch keine hohen Zäune oder gar Stacheldraht. Das sei zeitgemäß, meint Sara Nachama, die Direktorin des Touro-College. "Bisher haben wir keine Probleme gehabt, und ich möchte meinen Studenten auch nicht das Gefühl geben, dass wir eine von der Gesellschaft abgetrennte Einrichtung sind", so Sara Nachama, die sich für eine offene Hochschule einsetzt.
Das gilt auch für das Verhältnis zu anderen Religionen. Am Touro-College studieren nicht nur Juden, sondern auch Christen und Muslime. Auf dem kleinen, überschaubaren Campus finden junge Menschen zusammen, die sich sonst kaum begegnen würden. Und manchmal beobachtet Sara Nachama dann Situationen, wie sie außerhalb ihrer Hochschule eher selten vorkommen, beispielsweise wenn eine Studentin mit Kopftuch aus dem Jemen mit einem Studenten aus Israel mit Kippa über Wirtschaftsmodelle diskutiere.
120 Studierende sind derzeit eingeschrieben. Taylor aus den USA ist eine von ihnen. Die 22-Jährige ist mit ihrem Vater nach Deutschland gekommen und studiert nun seit zwei Semestern Betriebswirtschaftslehre. Doch es sind nicht nur Wirtschaftsfragen, mit denen Taylor sich beschäftigen muss. Sie ist Christin, über das Judentum wusste sie bisher wenig. "Die Religion dominiert das Studium nicht, aber sie ist präsent. Wir haben eine koschere Mensa und manchmal feiern wir gemeinsam jüdische Feste."
Sabbat an der Hochschule
Freitags findet der Unterricht nur bis Mittag statt, da mit Sonnenuntergang der Sabbat beginnt, der jüdische Ruhetag, an dem nicht gearbeitet werden soll. Neben den jüdischen Bräuchen und Traditionen sind auch Jüdische Studien ein Pflichtfach für alle Studenten. Hier beschäftigen sie sich mit jüdischer Philosophie, Geschichte und auch mit dem Holocaust.
Das sei auch für deutsche Studierende interessant, für die das Thema Holocaust schon in der Schule Pflicht war. "Während der Schulzeit sind die Schüler entweder zu jung oder später, in der Pubertät, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich diesem Thema emotional zu nähern. Nach dem Abitur haben sie die richtige Reife, um verstehen zu können, wie es zum Holocaust kommen konnte", sagt Sara Nachama, die selbst aus Israel stammt und seit den 1970er Jahren in Deutschland lebt.
Student Jonathan ist seit drei Jahren in Berlin. Auch er ist mit seiner Familie aus Israel hierher gezogen. "Für mich ist es sehr wichtig, auf eine jüdische Hochschule zu gehen", sagt der 21-Jährige. Seine Religion bedeute ihm sehr viel. "Ich gehe regelmäßig in die Synagoge und auch den Sabbat halte ich ein. Komischerweise bin ich der einzige in der Familie, dem das nach unserer Emigration so wichtig geworden ist."
Natürlich hätten einige Bekannte in Israel schockiert darauf reagiert, als er mit seinen Angehörigen ausgerechnet nach Deutschland ausgewandert sei. Aber diese Menschen lebten zu sehr in der Vergangenheit, glaubt der Student: "Deutschland ist trotz seiner belastenden, besonders für uns Juden grausamen Geschichte ein tolles Land. Hier gibt es so viele Freiheiten und Möglichkeiten." Das sage er auch seinen Freunden in Israel.