Algen als Vorbilder
2. Mai 2013In Bremerhaven liegt ein großer, noch weitgehend unentdeckter Schatz: In seinen Sammlungen hat das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) unzählige kleine Glasröhrchen, gefüllt mit mehligem Pulver. Es ist getrocknetes Meeresplankton, genauer: Die Zellskelette von Kieselalgen und anderen Einzellern. Die Skelette bestehen aus Silikat, also quasi aus Glas.
Mit dem Auge sind diese Kleinstlebewesen gar nicht zu erkennen. Erst unter dem Mikroskop wird sichtbar, dass sie eine riesige Vielfalt an Formen hervorbringen - Formen von denen auch der Mensch etwas lernen kann. "Nicht nur, dass sie schön aussehen, wir haben auch herausgefunden, dass sie fantastische Lasten aufnehmen können", sagt der Ingenieur Moritz Maier vom AWI.
Er versucht den Schatz zu heben und den Plankton-Skeletten ihre Geheimnisse zu entlocken. Dabei arbeitet er beim Projekt ELiSE mit Kollegen aus verschiedensten Fachrichtungen zusammen: Biologen, Planktonforscher, Biomechaniker, Bioniker, Luft- und Raumfahrtingenieure, Maschinenbauer, Schiffbauer und Designer.
Belastbare Bauwerke
"Wenn man die Stabilität auf unseren Maßstab übertragen würde, könnte man 150 Mittelklassewagen auf einen Kanaldeckel stellen", veranschaulicht Maier die Tragkraft der winzigen Zellskelette. Mit ihnen schützen sich die Einzeller vor Fressfeinden, zum Beispiel vor winzigen Ruderflusskrebsen.
Die ausgeklügelten Konstruktionen der Skelette bieten Ingenieuren allerhand Vorbilder: Da gibt es verschiedene Rippenkonstruktionen, Kantenversteifungen und Flächentragwerke. "Das sind sehr techniknahe Formen", sagt der Ingenieur, "wir generieren daraus für die Industrie Leichtbaulösungen und lassen uns dabei von der Natur inspirieren."
Als Erstes erzeugen die Forscher dreidimensionale Computermodelle der Zellskelette, indem sie diese mit speziellen Laser-Mikroskopen schichtweise abscannen. So können sie mit computerunterstützten Designprogrammen, also CAD-Programmen, errechnen, welche Lasten die Skelette aufnehmen können. Später übernehmen sie Ideen aus den Skelett-Konstruktionen in eigene Entwürfe. Diese ähneln zwar den ursprünglichen Formen nur noch grob, denn auf Einzeller wirken ganz andere Lasten als zum Beispiel auf ein Bauwerke oder Fahrzeugteile, aber die physikalischen Prinzipien dahinter sind gleich.
Netze überlagern sich
Ein Beispiel dafür sind Wabenstrukturen: Wie ein Bienenstock haben auch Kieselalgen sechseckige Waben, sie sind aber um vieles komplexer als die der Insektenbehausungen - die einzelnen Waben-Netze überlagern sich nämlich. So entsteht eine Wabe in der Wabe.
"Wenn man sich das im Schnitt anschaut erkennt man ein Gewölbe", sagt Maier und erklärt den Effekt, der sich dahinter verbirgt: "Wenn ich in der Mitte drücke, wird die Kraft von der kleinsten in die nächst größere Ebene weitergegeben, dann an die nächste und so weiter bis zum größten Steg. Dadurch kann ich mir eine größere Wabengröße erlauben und habe damit weniger Gewicht."
Wenn man dieses Konstruktionsprinzip in der Architektur oder im Fahrzeugbau anwendet, ergibt sich neben der Gewichtsersparnis auch eine bessere Dynamik: Die Wabenstruktur schwingt in sich selbst um gut die Hälfte weniger als eine herkömmliche Wabe. Am Computer lässt sich dieser Stabilitätsgewinn nachweisen: Bei bis zu vier übereinandergelegten Wabennetzen ist er technisch noch messbar. In der Natur gibt es sogar bis zu acht solcher "Waben in der Wabe".
Waben sind nicht immer gleich groß
Eine zweite Entdeckung: Auch die Größe der einzelnen Waben des Zellskeletts unterscheidet sich. Dort, wo die Wabenstruktur mehr Kraft aufnehmen muss, sind die Waben kleiner - also die Netze dichter - als dort, wo geringere Kräfte wirken.
Nach diesem Vorbild könnte zum Beispiel ein Statiker am Computer genau simulieren, wie die tragende Decke eines Fabrikgebäudes aussehen müsste, wenn in der einen Ecke des Raumes eine besonders schwere Maschine steht, aber in der anderen Ecke nur Schreibtische sind.
Und bei den Einzellern gibt es auch beides gleichzeitig: variable Wabengrößen und übereinanderliegende Wabennetze:
"Wenn man jetzt beides kombiniert, hat man sowohl statisch als auch dynamisch fantastische Effekte", so der Ingenieur. Je nachdem, ob ein Konstrukteur, Designer oder Architekt also eher auf das Gewicht oder die Steifigkeit achten muss, kann er so einiges gewinnen.
Ein Flugzeugflügel ließe sich so zum Beispiel optimieren, denn auch auf den wirken ganz unterschiedliche dynamische und statische Lasten. Aber auch im Fahrzeugbau, für Zelte und viele andere Zwecke lassen sich die Vorbilder der Einzeller nutzen, sagt der Biotechnologe Rainer Erb.
Mit seinem Kompetenz-Netzwerk Biokon will er die Nutzung bionischer Vorbilder durch Erfinder fördern. "In der Bionik gibt es zwar oft nur eine einzige grundsätzliche Entdeckung, aber die kann dann in ganz unterschiedlichen Branchen angewendet werden", so Erb.
Für die Biologen und Ingenieure des AWI gibt es jedenfalls noch genug zu tun: Abermillionen von Einzellern hüten in den Sammlungen des Instituts nach wie vor ihre Geheimnisse.