Was lernt die Medizin von Langzeit-Astronauten?
1. März 2016Am 27. März 2015 sind der US-Astronaut Scott Kelly und der russische Kosmonaut Michail Kornijenko an Bord des russischen Raumschiffs Sojus TMA-16M zur Internationalen Raumstation (ISS) abgeflogen. Keine sechs Stunden später konnten sie bereits dort andocken. Damals war es der 28. März um 1:33 Uhr Weltzeit.
Nach mehr als 340 landeten die beiden Raumfahrer jetzt gemeinsam mit ihrem russischen Kollegen Sergej Wolkow, der fünf Monate an Bord der ISS verbrachte, in der kasachischen Steppe, wie die US-Raumfahrtbehörde Nasa und das russische Kontrollzentrum mitteilten.
Den letzten Langzeitrekord auf der ISS hatte ebenfalls ein russisch-amerikanisches Team aufgestellt: Michail Tjurin und Michael Lopez-Alegria waren von 2006 bis 2007 für 215 Tage auf der Raumstation. Es gab allerdings vier russische bzw. sowjetische Raumfahrer, die noch länger im All waren: Absoluter Rekordhalter unter ihnen ist der Russe Waleri Poljakow, der 437 Tage auf der Raumstation Mir verbracht hat - von 1994 bis 1995. Auch die Kosmonauten Sergej Awdejew, Wladimir Titow und Musa Manarow waren länger im All als Kelly und Kornijenko.
Ein Zwillingsbruder zum Vergleich auf der Erde
Neu an dem jetzigen Langzeitversuch ist jedoch etwas, wovon Mediziner bei solchen Forschungsprojekten meist nur träumen können: Sie haben einen nahezu perfekten Vergleichs-Probanden auf der Erde. Scott Kelly hat nämlich einen eineiigen Zwillingsbruder. Mark Kelly ist ebenfalls Astronaut und hat als Shuttle-Pilot bisher an vier Raumflügen zur ISS teilgenommen.
Die Zwillinge werden - und wurden - nun auf Herz, Nieren und vieles weitere mehr geprüft, um zu ergründen, wie sich der Körper und die Organe in der Schwerelosigkeit und auf der Erde entwickelt haben. Die Mediziner haben dabei den ganzen Körper im Blick.
Die Forschungsergebnisse aus der Langzeitmission können sicher helfen, zu verstehen, was mit Astronauten passiert, die sich etwa auf den Weg zum Mars machen - nicht weniger wichtig sind die Erkenntnisse aber für Patienten auf der Erde.
Veränderungen in der Knochensubstanz
Denn der lange Aufenthalt im All kann zu einem Knochenabbau führen. Dieser geht einher mit einer Entmineralisierung: Die Knochen werden spröder und die innere Substanz schwächer. Nach der Rückkehr auf die Erde ist auch die Gefahr von Knochenbrüchen größer.
Ein ähnliches Problem kennen Frauen nach den Wechseljahren. Werden sie nicht medikamentös behandelt, können sie innerhalb eines Jahres über ein Prozent ihrer Knochensubstanz im Hüftknochen verlieren. Bei Astronauten geht das noch schneller: Hier kann es innerhalb eines Monats passieren. Starke Knochenverluste treten auch am Rückenwirbel, den Oberschenkeln und an den Kniegelenken auf.
Dagegen lässt sich in begrenztem Rahmen auch etwas durch eine gezielte Ernährung tun. Aber auch hier zeigt die Erfahrung von früheren Raumflügen: Astronauten essen generell etwas weniger als auf der Erde und verlieren mit der Zeit auch bis zu fünf Prozent ihres Körpergewichts.
Muskeln bilden sich zurück
Jeder kennt es, wenn der Arm oder das Bein einmal längere Zeit eingegipst waren: Danach hat der Arm einfach keine Kraft mehr. Jede Bewegung muss erst einmal neu gelernt werden. So ähnlich ergeht es auch Astronauten auf Langzeitmissionen. Schon nach nur zwei Wochen nimmt die Masse an Muskelfasern um etwa ein Drittel ab.
Aufgrund der fehlenden Gravitation bilden sich genau die Muskelpartien zurück, die dafür verantwortlich sind, dass wir laufen, stehen und aufrecht sitzen können. Auf der Erde simulieren Mediziner den gravitationsfreien Zustand, indem sie Probanden monatelang in einer leichten Kopf-Tieflage ins Bett legen. Das hat dann einen ähnlichen Effekt.
Um gegen den Muskelabbau vorzugehen, müssen Astronauten daher in der Schwerelosigkeit regelmäßig hart trainieren: Täglich mindestens zwei Stunden auf dem Laufband, in einer Tretmühle oder anderen Trainingsgeräten. Bei einer Langzeitmission würden sie sonst bis zu vierzig Prozent ihrer Muskelfasern verlieren.
Außerhalb der Raumfahrt können die Forschungen etwa helfen, neue Therapien und Behandlungsmethoden für bettlägerige Patienten zu entwickeln - oder auch gegen krankheitsbedingten Muskelschwund.
Andere Schwerkraft, anderer Herz- und Kreislauf
Da sich der Körper in der Schwerelosigkeit weniger anstrengen muss, werden auch das Herz und der Kreislauf nicht so gefordert wie auf der Erde. Das führt aber auch zu weniger Blutdurchsatz und damit zu einer Unterversorgung der Muskeln und Organe mit Sauerstoff. Bei früheren Astronauten wurden immer wieder Herzrhythmusstörungen nachgewiesen, obwohl sie eigentlich topfit waren.
In der Schwerelosigkeit fließt mehr Blut in den Oberkörper und Richtung Kopf. Darauf reagiert der Körper, indem er weniger Blut neu bildet. Kehrt der Astronaut dann auf die Erde zurück, leidet er zunächst unter niedrigem Blutdruck. Das kann nach der Landung bis zu einer Ohnmacht führen.
Für Mediziner sind die Zusammenhänge von Blutdruck und Gravitation höchst interessant - neben den damit verbundenen molekularen Prozessen in den Zellen: So wurde auf früheren Raumflügen ein Zusammenhang zwischen Kochsalz in der Nahrung und Bluthochdruck nachgewiesen. Daraus ist ein eigener Forschungsbereich erwachsen.
Das Immunsystem reagiert auf die Schwerelosigkeit
Von früheren Raumflügen ist bekannt, dass das menschliche Immunsystem sich in der Schwerelosigkeit verändert. So kann eine Herpesinfektion, die auf der Erde unbemerkt bliebe, auf der Raumstation plötzlich ausbrechen.
Auch wurde durch Proben gemessen, dass die Anzahl von Immunzellen im Blut, die vor uns nach einer Mission gemessen wurden, sich verändert hatte. Schon kurze Zeit nach der Rückkehr normalisierten sich diese Werte.
Wie kommt der Mensch wieder ins Gleichgewicht?
Im Gehirn laufen Informationen von einer Vielzahl von Nerven zusammen: Den Augen, dem Gleichgewichtsorgan im Innenohr, dem Tastsinn und von Nervenzellen der Muskeln. Gelangen Menschen plötzlich in die Schwerelosigkeit, fehlen wichtige Orientierungsinformationen. Die Sinne geraten durcheinander.
Auf der Erde ist das als Seekrankheit bekannt - oder auch als Reisekrankheit, die etwa bei Bus- oder Autofahrten auftritt. Durch Elektroenzephalogramme und andere Diagnoseverfahren haben die Mediziner bei Astronauten die Möglichkeit zu ergründen, was sich im Gehirn abspielt, wenn sie sich an den neuen Zustand gewöhnen - erst an die Schwerelosigkeit und dann nach langer Zeit wieder an die Gravitation.
Wie wirkt die Strahlung auf den Körper?
Auf der Erde sind wir durch die Atmosphäre vor kosmischer Strahlung geschützt. Auf der ISS besteht der Schutz nur durch die relativ dünne Außenwand der Raumstation - und die kann nicht alle ionisierenden Strahlungsformen abhalten - wie etwa die Gammastrahlen, die wir vom Röntgen kennen.
Hinzu kommen Teilchen, die durch sogenannte koronale Massenauswürfe von der Sonne weggeschleudert werden - zum Beispiel durchdringende Protonen.
Medizinische Strahlungsrisiken sind unter anderem: Eine erhöhte Krebsgefahr, Auswirkungen auf das zentrale Nervensystem und Schädigungen des Erbgutes.
Bleiben Geist und Nerven stark?
Nicht nur die Gravitation, auch die Enge auf einer Raumstation, die gute oder manchmal auch schlechte Stimmung im Team und die Arbeitsbelastung können sich auf die Gesundheit auswirken.
So kann mangelnder Schlaf zu messbaren medizinischen Veränderungen führen. Dieser kann durch die laute technische Umgebung auf einer Raumstation oder in einem Raumschiff ausgelöst werden, durch die Klimatisierung oder durch den aus dem Takt geratenen Tag-Nacht-Rhythmus.
Astronauten schlafen im Schnitt weniger als sechs Stunden am Tag, was zu dem Verlust der Leistungsfähigkeit führen kann. Aufgrund der strengen Auswahlverfahren ist es bisher noch nie bei einem Raumflug zu Problemen aufgrund von Verhaltensstörungen oder Psychosen gekommen.
Es hat sich aber bei früheren ISS Missionen durchaus gezeigt, dass die Teamfähigkeit aller beteiligten Astronauten für den Erfolg einer Mission wichtig ist. Ist die Stimmung von Anfang an verdorben, weil Probleme verschwiegen oder nicht angesprochen werden, kann sich Ärger über eine Langzeitmission auch hochschaukeln.