Martin Walsers Tagebücher
5. Mai 2010Manchmal sind es nur wenige Sätze, die Martin Walser notiert, an anderen Tagen viele Seiten. Die Aufzeichnungen enthalten Alltagsbeobachtungen, Eindrücke von Lesereisen, Anmerkungen zu Arbeitsprojekten, Gedanken, Gefühle. "Ich schreibe nur, wenn mir das Leben einen Ausdrucksreiz serviert, aufdrängt", betont Walser. Für Wissenschaftler sind die Tagebücher von Schriftstellern eine Fundgrube, wenn es darum geht, Leben und Werk eines Autors zu rekonstruieren. Leserinnen und Leser dagegen können dem oft weniger abgewinnen. Man muss nicht alles über Autoren wissen, um Freude an ihren Romanen zu haben, Intimitäten tragen selten zum Erkenntnisgewinn bei. Die Ausbeute mit lesenswerten Eintragungen ist in diesem Fall jedoch außergewöhnlich groß.
Rampensau Walser
Martin Walsers Tagebücher sind witzig und unterhaltsam und gespickt mit kleinen Frechheiten gegenüber Schriftstellerkollegen, wie diese:
"Ein Schriftsteller kann ruhig Kollegen als Vorbilder für Figuren nehmen. Die Gefahr, dass die Kollegen sich selber so darstellen wie er sie darstellt, ist ungeheuer gering."
Solche Bemerkungen kommen an, das weiß Martin Walser. Er hat früh gelernt, sich der Medien zu bedienen, und ist - im Theater würde man sagen - eine Rampensau. Deshalb trägt er auf Lesereisen auch gern die lustig-ironischen Passagen vor. Je besser sich das Publikum amüsiert, desto eher ist es bereit, nach der Veranstaltung auch ein Buch zu kaufen. Martin Walser lebt seit über 50 Jahren als freier Schriftsteller. Auch davon erzählt das Tagebuch: von der Mühsal des Geldverdienens. Er habe die Aufzeichnungen für die Veröffentlichung nicht überarbeitet, betont er:
"Die Tagebücher sind prinzipiell nicht verbesserbar. Ich habe gemerkt, entweder sind diese Sätze richtig, dann lasse ich sie stehen, oder – das ist die einzige Möglichkeit des Eingreifens – ich streiche sie."
Intimes und Politisches
Stehen geblieben ist viel: Intimes, Peinliches, Amüsantes und Informatives. Die Tagebücher der Jahre 1974 bis 1978 behandeln die Zeit des RAF-Terrorismus und der Schleyer-Entführung. Wie viele Schriftsteller damals zählte sich Martin Walser zu den Linken, und das bedeutete, er stand links von der SPD. Das kann man sich heute kaum noch vorstellen. Teilweise sympathisierte er sogar mit der DKP, der DDR-nahen Deutschen Kommunistischen Partei. Was ihm die Konservativen damals übel genommen haben und teilweise immer noch ankreiden. In diese Zeit, die als "Deutscher Herbst" in die Geschichte einging, fällt auch die vernichtende Kritik von Marcel Reich-Ranicki in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, FAZ, an Walsers Roman Jenseits der Liebe. Die FAZ war immer ein konservatives, aber meinungsbildendes Blatt und Reich-Ranicki schon zu der Zeit ein einflussreicher Kritiker. Unter dem Titel Jenseits der Literatur hatte dieser nicht nur Walsers Buch als miserabel und belanglos kritisiert, sondern auch das politische Engagement des Autors verhöhnt. Martin Walser war zutiefst gekränkt und schrieb im Tagebuch einen Brief an MRR, wie er ihn nennt.
Sie haben meine Mitarbeit an der Bildung der öffentlichen Meinung als unseriös, scharlatanesk, als Jux und Bajazzerei diffamiert. Da Sie keinen Versuch gemacht haben, solche Behauptungen zu beweisen und mir zum Prozessieren das Geld fehlt, bleibt mir nichts als die Ohrfeige. Ich sage Ihnen, dass ich Ihnen, wenn Sie in meine Reichweite kommen, ins Gesicht schlagen werde.
Alte Wunden
Martin Walser hat diesen Brief damals nicht abgeschickt. Aber die Kränkung saß so tief, dass er sie nie verwand. Das änderte sich auch nicht mit der positiven Besprechung seines nächsten Buchs, der 1978 erschienen Novelle Ein fliehendes Pferd. Immerhin ein Bestseller und die bis dahin erfolgreichste Publikation Martin Walsers. Als die Frankfurter Allgemeine Zeitung jetzt Passagen aus seinen Tagebüchern abdruckte, und zwar ausschließlich Passagen, die sich mit Reich-Ranicki, dem ehemaligen Literaturchef der Zeitung befassen, nicht aber die mit der Ohrfeige, riss die alte Wunde wieder auf.
"Also heute 35 Jahre später kann in der FAZ nicht stehen, dass da mal ein Schriftsteller war, der seine rechte Hand so beschäftigen wollte."
Offenbar nehme man dort seine Tagebuch-Phantasie für bare Münze, spottet Walser. Dabei sei doch alles Text: "Meine rechte Hand eignet sich überhaupt nicht zum Ohrfeigen, sondern zum Schreiben. Aber das können die dort nicht begreifen. Die machen das 1:1. Auch ein Tagebuch ist Belletristik."
83 ist Martin Walser inzwischen, ein alter Mann, aber immer noch erfrischend streitbar.
Autorin: Heide Soltau
Redaktion: Gabriela Schaaf