Maria Stepanova: wichtige Stimme aus Russland
1. Juni 2021Maria Stepanova ist geflohen. Seit vielen Monaten lebt sie mit ihrer Familie auf einer Datscha bei Moskau. Eine Strategie, die für die russische Kulturszene durchaus typisch ist: Sowohl die Pandemie als auch das raue politische Klima hat zahlreiche Kulturschaffende in eine Art "Datscha-Emigration" getrieben.
Von hier aus kommuniziert sie mit ihren Verlegern weltweit, koordiniert als Chefredakteurin die Arbeit von colta.ru, einer der letzten unabhängigen journalistischen Plattformen in Russland und schreibt. Zudem gibt sie noch zahlreiche Interviews: im Vorfeld der Verleihung des International Booker Prize manchmal mehrfach pro Tag. Meistens per Telefon. Obwohl die Verbindung schlecht ist, hört man die Vögel im Hintergrund zwitschern.
Im Kampf gegen das Vergessen
Sechs Titel stehen auf der Shortlist des Booker Prize. Der Literaturpreis ehrt die besten fremdsprachigen und ins Englische übersetzten Romane, die im vergangenen Jahr in Großbritannien veröffentlicht wurden. 2021 ist neben Übersetzungen aus dem Französischen, Spanischen und Dänischen auch Stepanovas Roman "Nach dem Gedächtnis" ("In Memory of Memory") auf der Shortlist vertreten. Erst zum dritten Mal in der Geschichte des Preises schaffte es ein aus dem Russischen übersetzter Roman in die engere Auswahl.
Das Buch, an dem die 1972 in Moskau geborene Lyrikerin, Essayistin und Journalistin viele Jahre arbeitete, sorgte in Russland 2017 für Furore und wird in der literarischen Welt als der bedeutendste russischsprachige Text des Jahrzehnts angesehen. 2018 erschien im Suhrkamp-Verlag die deutsche Übersetzung. Es folgten Übersetzungen in zehn weitere Sprachen.
Die internationale Literaturkritik lobte in höchsten Tönen Stepanovas vielschichtigen, lyrischen Essay über die eigene Familiengeschichte und das Wesen des Erinnerns: Die dicht und virtuos verwobenen Erzählstränge setzen sich aus Liebesgeschichten, Reiseberichten, Reflektionen und Rezensionen zusammen. Sie lassen die russisch-jüdisch-europäische Familie der Autorin wiederauferstehen und spiegeln ihr Leben im Verlauf eines Jahrhunderts wider. Es ist eine Geschichte, die nicht in den Schulbüchern steht - erst recht nicht in den russischen.
Für Russland ist der Ansatz hochaktuell, erlebt das Land doch, so Stepanova, "eine Entführung der Geschichte" durch die Machthabenden. "Putins Version der Geschichte stellt sich als eine ununterbrochene Kette von Siegen dar", analysiert Maria Stepanova im DW-Gespräch. "Es ist eine aufsteigende Größe: von zaristischem Russland zur siegreichen Stalin-Zeit und schließlich zur strahlenden Putin-Gegenwart voller Würde und Stabilität."
Der Eindruck entstünde, dass es weder die Revolution, noch den Bürgerkrieg, noch Millionen von Opfern des Stalin-Terrors gegeben habe, so Stepanova weiter. "Und für diese Version der Geschichte ist die Macht bereit, mit allen Mitteln zu kämpfen. Unter anderem werden Gesetze zur Geschichtsfälschung verabschiedet."
Eine Lyrikerin mit Tiefgang
Dabei ist Maria Stepanova keine Aktivistin, sondern vor allem Lyrikerin. Seit Anfang der 1990er Jahre, als sie am Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau studierte, veröffentlichte Stepanova zahlreiche Gedichtbände und Essays. Die charismatische Frau mit markantem Profil und wuscheligem schwarzem Haarschopf avancierte zum Mittelpunkt der russischen Literaturwelt. Ob poetische Lesungen, öffentliche Diskussionen oder Buchmessen - Maria Stepanova, wortgewaltig und tatkräftig, prägte und prägt weiterhin die russische Kulturszene.
2018 trat sie eine Stelle als Gastdozentin an der Humboldt-Universität in Berlin an. Die Bindung an die internationale Kulturszene ist für Stepanova zentral, gerade in der aktuellen politischen Lage: "Kultur sollte ein Feld des internationalen Dialogs bleiben, denn wenn dieser Dialog abbricht, bleibt die russische Kultur in ihrem eigenen Inneren gefangen und frisst sich nach und nach selbst auf", sagt die Schriftstellerin. "Wir wissen, wozu die Jahre des Eisernen Vorhangs geführt haben - zum Verlust einer gemeinsamen Sprache. Es gibt ein großes, globales Gespräch, das von der gesamten Weltliteratur geführt wird. Es ist sehr wichtig, dass auf Russisch verfasste Texte nicht aus diesem Gespräch herausfallen."
Maria Stepanova nimmt kein Blatt vor den Mund und so fällt ihre Einschätzung der aktuellen Situation in Russland sehr kritisch aus: "Mir scheint, dass die Regierung, die in den letzten Jahren klüger geworden ist, einen Weg gefunden hat, die Menschen weiterhin zu unterdrücken und in Gehorsam und Angst zu halten, ohne sich für Konzentrationslager und Hinrichtungen zu verausgaben. Das ist eine "Sündenbock"-Taktik: selektive Opfer, selektive Festnahmen, in ihrer Unverschämtheit geradezu theatralische Gesten wie diese Flugzeugentführung haben ihre Wirkung. Die Menschen sind nicht eingeschüchtert, weil ihr Leben morgen oder heute bedroht ist, sondern weil sie einfach verstehen, dass das, was mit einem Menschen gemacht wird, jederzeit auch allen anderen passieren kann."
So Stepanova im DW-Gespräch. Dabei sieht sich die Dichterin ungern in einer Kassandra-Rolle: "Heulen bringt nichts. Mein inneres Gefühl sagt mir, dass seit der Pandemie eine neue Zeit angebrochen ist. Das ist wie im letzten Jahrhundert: Das 20. Jahrhundert fing de facto 1914 mit dem Ersten Weltkrieg an. So ist es auch jetzt. Aber nun ist die Vergangenheit endgültig vergangen, es beginnt etwas Neues. Und etwas Neues ist immer gut." So zumindest die Hoffnung der Datscha-Exilantin Maria Stepanova.