"Gold in Tokio wäre das i-Tüpfelchen"
13. August 2021Wegen der sich zuspitzenden Corona-Situation in der Gastgeber-Stadt Tokio sollen wie schon bei Olympia auch bei den Paralympics Zuschauer weitgehend ausgeschlossen werden. Diese Entscheidung wird nach japanischen Medienberichten am Montag bei einem Treffen der Organisatoren mit dem Internationalen Paralympischen Komitee (IPC) und der Regierung in Tokio erwartet. Die Spiele der Sportlerinnen und Sportler mit Handicap werden am 24. August eröffnet und dauern bis zum 5. September. Seit Beginn der Olympischen Spiele am 23. Juli hat sich die Zahl der täglichen Neuinfektionen in Tokio wegen der Ausbreitung der Delta-Variante mehr als verdoppelt.
Die deutsche Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft der Frauen startet an diesem Samstag Richtung Tokio. Ihr Paralympics-Auftaktspiel gegen Australien bestreiten die Basketballerinnen am 26. August. Weitere Vorrundengegner in der Gruppe A sind Vize-Weltmeister Großbritannien, Kanada und Gastgeber Japan. Die vier Bestplatzierten der beiden Gruppen qualifizieren sich für die Viertelfinals. Im DW-Interview spricht Kapitänin Mareike Miller über ihre Erwartungen und Hoffnungen.
DW: Mit welchen Gefühlen fliegen Sie nach Tokio?
Mareike Miller: Mit gemischten Gefühlen, einfach weil es wegen Corona ein ganz besonderes Jahr ist. Man muss so viel beachten und ist mit viel Bürokratie beschäftigt: PCR-Tests, die ganzen Formulare, zusätzliche Bestätigungen. Man muss sich mit so vielen Themen drumherum beschäftigen und kann sich nicht einfach nur auf die Reise freuen. Auf der anderen Seite ist der Abflug natürlich der Startschuss. Man weiß, jetzt geht es wirklich los. Da schwingt dann auch Vorfreude mit.
Bereitet Ihnen die aktuelle Corona-Lage in Tokio Bauchschmerzen?
Irgendwie ja, irgendwie aber auch nicht. Wir bewegen uns ja nicht in der Stadt und sind als Sportler im Paralympischen Dorf ziemlich abgeschottet, zudem werden wir täglich getestet. Auf der anderen Seite fliegen wir vor den Spielen innerhalb Japans in ein Trainingslager. Dort sind wir in einem normalen Hotel untergebracht. Da habe ich etwas mehr Bedenken.
Doch selbst in Deutschland steigen die Infektionszahlen wieder. Letztendlich ist man momentan nirgendwo auf der Welt zu hundert Prozent geschützt. Man muss sich an die Vorsichtsmaßnahmen halten und sein Bestes tun, um sich zu schützen. Dazu gehört für mich, dass man geimpft ist, Maske trägt und Abstand hält. Mit einer gesunden Vorsicht kann man diese Reise machen.
Rechnen Sie damit, dass sich mit all den Einschränkungen in Tokio überhaupt so etwas wie ein Paralympics-Gefühl entwickeln kann?
Ich kann nicht abschätzen, wie es in der japanischen Bevölkerung aussieht. Während der Olympischen Spiele hat man schon eine gewisse Begeisterung für den Sport sehen können. Aber natürlich gibt es dort auch viele Skeptiker, die immer noch nicht begeistert sind, dass Menschen aus aller Welt in Japan zusammenkommen. Ich denke aber, dass wir dieses Paralympics-Gefühl erleben können, weil wir mit den anderen Athletinnen und Athleten weitgehend abgeschottet im Paralympischen Dorf und an den Wettkampfstätten sind und gemeinsam auf die Wettkämpfe hinfiebern.
Und alle im deutschen Team sind wahrscheinlich froh, dass Barbara Groß mit dabei ist? Ihr war zunächst wegen vermeintlich nicht ausreichender Behinderung das Paralympics-Startrecht entzogen worden. Der Einspruch gegen den Ausschluss hatte Erfolg.
Nach der ganzen Vorgeschichte ist sie ein genauso fester Bestandteil der Mannschaft wie schon seit 2015 und auch eine wichtige Stütze der Mannschaft - sowohl menschlich als auch sportlich. Und insofern sind wir natürlich froh, dass sie auch weiterhin mit dabei ist.
Wie sehen Ihre sportlichen Ziele für Tokio aus?
Das ist in diesem Jahr schwierig zu sagen. Wir kennen die Gegner nicht gut genug, um wirklich einschätzen zu können, wo wir im Augenblick stehen. Nachdem ich schon einmal Gold und einmal Silber gewonnen habe, möchte ich sehr gerne eine weitere Medaille gewinnen. Ich bin der festen Überzeugung, dass unsere Mannschaft die Fähigkeit hat, auch Gold zu gewinnen. Aber das wäre natürlich das i-Tüpfelchen.
Es sollte unser Ziel sein, uns eine Medaille zu verdienen. Aber wir müssen von Tag zu Tag schauen und sehen, was wir aus uns herausholen können. Wir wollen versuchen, in unserer schweren Gruppe mindestens den zweiten Platz zu holen, um eine bessere Ausgangsposition fürs Viertelfinale zu haben. Aber auch das ist kein Selbstläufer.
Die Corona-Pandemie hat auch die Trainingsbedingungen im Rollstuhlbasketball massiv beeinträchtigt. Findet sich die Mannschaft jetzt erst im Trainingslager in Japan so richtig zusammen?
Nein. Uns hilft, dass einige von uns schon seit langem dabei sind, vier davon schon bei den Paralympics in London, weitere in Rio. Insofern gibt es einen harten Kern, der schon viele Jahre zusammengespielt hat. Allerdings konnten wir im vergangenen Jahr nicht ein einziges Mal gemeinsam trainieren. In diesem Sommer haben wir schon einige Lehrgänge und auch Testspiele gemacht.
Dennoch haben wir von den neun Mannschaften, die außer uns in Tokio spielen werden, nur zwei gesehen. Uns flexibel auf jeden Gegner einzustellen, wird also eine Hürde sein, die wir überspringen müssen. Der Feinschliff muss vor Ort stattfinden. Das wird dann darüber entscheiden, ob wir wieder ganz nach oben blicken können oder eben nicht.
Mareike Miller ist Kapitänin der deutschen Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft der Frauen. Bei den Paralympischen Spielen in London 2012 gewann sie mit dem Team Gold, 2016 in Rio de Janeiro Silber. Die 31-Jährige spielt beim Bundesliga-Klub BG Baskets Hamburg, den Rollstuhlbasketballerinnen des Hamburger SV. Miller, die seit der Kindheit einen irreparablen Knieschaden hat, ist auch Aktivensprecherin im Deutschen Behindertensportverband (DBS). Sie studierte in den USA Marketing und Projektmanagement und arbeitet als PR-Beraterin.
Das Interview führte Stefan Nestler.