Mao, Markt, Menschenrechte
11. Oktober 2012
Ein relativ kleiner Industriestaat im Herzen Europas, der nach den Jahren des Hitler-Faschismus und der Überwindung des DDR-Regimes stolz auf seine Demokratie und Rechtstaatlichkeit ist. Und eine Einparteiendiktatur mit einer Milliardenbevölkerung und einem riesigen Territorium, groß wie ein Kontinent: Ungleichere Partner als Deutschland und China lassen sich kaum denken. Und doch haben sich gerade diese Beziehungen in einer Weise entwickelt, die sich vor 40 Jahren niemand in seine kühnsten Träumen vorzustellen vermochte.
Als Ausweis der besonderen Qualität mögen die deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen dienen. Zuletzt reiste Ende August das halbe deutsche Kabinett nach Peking. Im Jahr zuvor war der chinesische Ministerpräsident mit 13 Ministern in Berlin. 2004 wurden die Beziehungen in einer Erklärung feierlich in den Rang einer "Strategischen Partnerschaft in globaler Verantwortung" erhoben. Es gibt über 30 regelmäßige Arbeitstreffen zwischen Experten, Fachministern, Staatsekretären und Regierungschefs. Es gibt über 500 Kooperationsprojekte zwischen deutschen Universitäten und chinesischen Hochschulen. Es gibt sogar fünf gemeinsame Forschungsinstitute. Es gibt eine Fülle von Städtepartnerschaften. Kurz: Nur mit wenigen Staaten der Welt unterhält Deutschland einen derart intensiven Austausch.
Wirtschaft geniesst Priorität
Der Kern der Beziehung lässt sich mit einer Zahl ausdrücken: 140 Milliarden Euro. So groß war das Warenaustauschvolumen zwischen beiden Ländern 2011. Deutschland ist Chinas wichtigster Handelspartner in Europa, Europa der wichtigste Handelspartner Chinas in der Welt. China wiederum ist der fünftgrößte Abnehmer deutscher Produkte - und der zweitwichtigste Handelspartner außerhalb Europas. Auch in den Augen des Chinawissenschaftlers Sebastian Heilmann aus Trier haben die Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Staaten höchste Priorität: "Alles andere folgt, mehr oder weniger, den Wirtschaftsbeziehungen. Beide Länder sind gegenwärtig komplementär aufgestellt, noch. Das heißt: Deutschland liefert Dinge, die China brauchen kann. Und China liefert Dinge, die Deutschland brauchen kann."
Neuanfang schon 1957
Schon 1957, vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, war ein erstes Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und China unterzeichnet worden. Allerdings nicht zwischen den Regierungen, die hatten schließlich keine Kontakte miteinander, sondern zwischen dem Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft und der chinesischen Außenhandelsbehörde CCPIT. Verhandlungsführer auf deutscher Seite war der Industrielle Otto Wolff von Amerongen. Vor seinem Tode im Jahr 2007 erinnerte Amerongen sich im Gespräch mit der Deutschen Welle: "Wir wollten damals nicht die Handelsbeziehungen, die einmal existierten und die sich durch die politischen Veränderungen natürlich total geändert hatten, völlig ins Leere fallen lassen."
Nixons Überraschungsbesuch
Es war die Zeit des Kalten Krieges. Deutschland und Europa waren geteilt. Die USA und die Sowjetunion standen sich unversöhnlich gegenüber. Auf dem Höhepunkt dieser Konfrontation reisten 1972 der damalige US-Präsident Richard Nixon und sein Außenminister Henry Kissinger überraschend nach Peking. Sie spielten nach der Logik "der Feind meines Feindes ist mein Freund" die China-Karte. Das vom Alleinherrscher Mao Zedong regierte China hatte sich mit seinem ehemaligen kommunistischen Bruderstaat Sowjetunion entzweit. Für Wolfgang Runge, ehemals deutscher Konsul in Guangzhou und Historiker, war der Besuch Nixons im China der Kulturrevolution das entscheidende weltpolitische Ereignis des Jahres 1972, mit Folgen auch für die westdeutsche Politik: "In einer Zeit, da ein Wettlauf nach Peking einsetzte, nachdem die VR China 1971 den chinesischen Sitz im Weltsicherheitsrat wieder eingenommen hatte, konnte und wollte sich Bonn dem nicht entziehen, ohne zu riskieren, in diesem Prozess ins Hintertreffen zu geraten."
Maos Mann in Bonn
Mao schickte 1972 den Journalisten Wang Shu in die damalige westdeutsche Hauptstadt Bonn, offiziell als Korrespondent der Nachrichtenagentur Xinhua. Inoffiziell sollte Wang die Möglichkeiten zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen ausloten. Die grundsätzliche Einigung erfolgte schnell, erinnerte sich Wang später an seine Begegnung mit dem damaligen Außenminister Walter Scheel: "Ich habe mich sofort mit Scheel getroffen, nur zehn Minuten verhandelt über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen - dann war alles okay." Allerdings folgten 40 Tage harter Verhandlungen über die Einzelheiten des bilateralen Vertrages. Speziell der Status von West-Berlin bereitete Kopfzerbrechen. Am 11. Oktober 1972 schließlich wurden offiziell diplomatische Beziehungen aufgenommen. Im gleichen Jahr folgte ein Handelsabkommen. Doch der Umfang des Handels blieb zunächst gering: 1973 im ersten Jahr nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen wurden Waren im Wert von gerade einmal einer Million D-Mark ausgetauscht.
Tiananmen-Massaker
Erst die Reformpolitik von Deng Xiaoping ab 1978 brachte Dynamik in die chinesische Wirtschaft -und auch in die Beziehungen zu Deutschland. 1989 aber kam der erste Bruch: Die blutige Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung am 4. Juni löste eine Eiszeit in den Beziehungen aus. Die aber war nicht von langer Dauer, erinnert sich Wolfgang Runge: "Interessanterweise ist dies aber nur eine befristete Unterbrechung gewesen. Es hat nie ein vollständiges Handelsembargo gegeben. Der Handelaustausch hat bereits 1991 wieder das Niveau des Vorjahres, also von 1988 erreicht, so dass in den 90er Jahren eine ständige wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung zu beobachten ist".
Kohls "Asien-Konzept"
1993 legte die damalige Bundesregierung unter Helmut Kohl ihr neues "Asien-Konzept" vor. Asien wird darin als Region mit immensen Zukunftschancen beschrieben. Die Wirtschaft wird zu Investitionen ermutigt - auch in China. Deutsche Chinapolitik wird noch mehr zu einem Instrument der Handelsförderung. Deutsche Kanzler lassen sich bei China-Reisen stets von umfangreichen Unternehmerdelegationen begleiten. Der Erfolg von Staatsbesuchen wird häufig in der Zahl der Wirtschaftsverträge und den vereinbarten Summen gemessen. Das ist bis heute so geblieben, auch wenn es mit dem Rechtsstaatsdialog und dem Menschenrechtsdialog bereits gut eingeführte Foren gibt, bei denen beide Seiten sich mit ihren unterschiedlichen Werten aneinander reiben können.