Manfred Lütz: "Flüchtlinge gut für unsere Gesellschaft!"
1. Oktober 2015DW: Die prognostizierte Flüchtlingszahl von 800.000 für 2015 wurde schon im September erreicht. Nächstes Jahr rechnen Experten mit zwei Millionen Menschen, die nach Deutschland kommen wollen. Kann das gut gehen?
Manfred Lütz: Man muss erst mal unterscheiden. Das eine ist eine politische Frage. Natürlich haben wir - das hat Bundespräsident Joachim Gauck auch gesagt - auch nur eine begrenzte Möglichkeit, Flüchtlinge aufzunehmen. Andererseits ist die Aufnahme von Flüchtlingen aber auch etwas ganz Positives. Diese Entwicklungen haben ein sehr positives Bild von Deutschland in die Welt gesendet. Es ist aber auch für uns Deutsche etwas ganz Tolles.
Wir haben bei uns im Dorf jetzt mehr Helfer als Asylbewerber. Es ist eine unglaubliche Hilfsbereitschaft entstanden. Ich habe gerade ein Buch geschrieben "Wie Sie unvermeidlich glücklich werden" und ich kann nur sagen, man kann unvermeidlich glücklich werden, wenn man einen Sinn im Leben sieht. Ich habe zum Beispiel den Eindruck, bei uns ist die Dorfgemeinschaft glücklicher geworden, weil viele Menschen einen Sinn darin sehen, Menschen in Not zu helfen. Kurz: Migranten nur als Last zu sehen entspricht nicht der Realität.
Sie sind Mediziner, Psychiater und Theologe - alles Disziplinen, die mit Menschen zu tun haben. Verkraftet die deutsche Gesellschaft eine solche Veränderung?
Die deutsche Gesellschaft hat schon vieles verkraftet. Wir haben nach 1945 zehn Millionen Flüchtlinge aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches aufgenommen, das war auch nicht immer einfach. Das soll man sich nicht so idyllisch vorstellen. Da gab es auch Spannungen, die Vertriebenen und Geflohenen waren nicht überall gern gesehen, aber man hat es verkraftet und es hat Deutschland insgesamt gut getan. Es waren Leute, die wollten etwas aufbauen und die Flüchtlinge, die wir im Moment bekommen - das muss man ja auch mal sagen - sind vielfach aus der Mittel- und Oberschicht ihrer Herkunftsländer. Wir haben ganz viele Akademiker bei uns im Dorf. Das sind die Leute, die es sich leisten konnten zu fliehen. Und die sind gewillt, zu arbeiten und etwas aufzubauen. Es wird sicherlich nicht einfach werden, es wird auch Schwierigkeiten geben, vielleicht auch kulturelle Missverständnisse, aber insgesamt glaube ich, es wird Deutschland gut tun.
Wir haben ein demografisches Problem und können junge und gut ausgebildete Zuzügler gut gebrauchen. Aber nicht Millionen. Wie viel späte Wiedergutmachung entdecken Sie an Merkels Flüchtlingspolitik 70 Jahre nach der NS-Herrschaft?
Ich weiß nicht, ob sie das bewusst macht. Ich weiß auch nicht ob man das siebzig Jahre danach so in Verbindung setzen kann. Aber es ist sicherlich gut, dass in die Welt hinaus nicht nur Bilder von brennenden Flüchtlingsheimen aus Deutschland gesendet werden. Diese Willkommenskultur macht eines deutlich: Wir senden ein Zeichen von Humanität in die Gesellschaft hinaus.
Ich glaube, nicht nur Flüchtlingen tut das gut, wenn sie das erleben, sondern das tut auch Behinderten gut, die das im Fernsehen sehen. Alten Menschen tut das gut, die dann merken: Diese Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die Menschen in Not hilft. Und nur wenn man selber weiß, wenn ich persönlich morgen in Not komme, dann bin ich nicht völlig alleine auf mich gestellt, dann bekomme ich Hilfe, dann kann man im Grunde glücklich werden.
Schaffen wir diese tätige Mithilfe auch langfristig?
Das kann man nicht sofort sagen, aber wenn man die Deutschen gefragt hätte im Jahre 1944, schafft ihr im zerstörten Westdeutschland noch zehn Millionen Deutsche aus Ostdeutschland aufzunehmen, da hätte man einen für verrückt erklärt und gesagt, natürlich schaffen wir das nicht, wie sollen wir denn selbst hier leben, unsere Städte sind doch zerstört? Aber man hat es geschafft.
Kanada warnt Flüchtlinge vor rechtsextremen Übergriffen in Ostdeutschland. Fürchten sie eine Wiedererweckung der Pegida-Bewegung?
Das muss man abwarten. Wir haben in Deutschland zunächst einmal Ostdeutschland integriert, das war ja auch eine ganz fremde Welt. Ostdeutschland war für mich als Kind und als Jugendlicher weiter weg als Syrien. Nach Syrien konnte man ja theoretisch wenigstens mal hinfahren, nach Ostdeutschland war das gar nicht möglich. Aber auch Menschen, die in einem so abgeschirmten Staat groß wurden, die sind auch integriert worden. Und ich glaube, dass wir die Integration von Menschen aus anderen Kulturkreisen durchaus bewältigen können.
Dr. Manfred Lütz ist Leiter des Alexianer Krankenhauses für psychisch Kranke in Köln. Er ist Autor zahlreicher Bestseller-Bücher und regelmäßiger Gast in Talk-Shows. In diesem Monat erscheint sein Buch "Wie Sie unvermeidlich glücklich werden".
Das Gespräch führte Volker Wagener.
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