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Magnum Photos bringen Europaführer für Flüchtlinge

Bettina Baumann
31. Dezember 2016

Rund eine Million Menschen haben 2016 einen Asylantrag in der EU gestellt. Was viele von ihnen nicht wissen: Einst lag auch Europa in Trümmern. Eine Gruppe von Journalisten will über die Geschichte Europas informieren.

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Thomas Dworzak, deutscher Fotograf, in einem französischen Café in New York (Foto: Sarah Shatz)
Fotograf Thomas Dworzak, der die Idee zu dem Buch hatteBild: Sarah Shatz

Polen, Tschechen, Slowaken, Weißrussen, Litauer, Ukrainer, Ungarn, Deutsche. Alle waren selbst einmal auf der Flucht. 20 Millionen Menschen, vertrieben durch den Zweiten Weltkrieg. Im Winter 1944/45 flüchteten allein 12 Millionen Deutsche aus Ostpreußen, Pommern, Brandenburg, Schlesien und Polen. Dann kamen die Jugoslawienkriege in den 1990er Jahren und wieder verließen Millionen von Flüchtlingen ihre Heimat, um sich vor den Kugeln zu retten.

2016: Laut UNHCR sind in diesem Jahr weltweit rund 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Wegen Hunger, Krieg, Terror. Vor allem der nicht enden wollende Bürgerkrieg in Syrien lässt immer mehr Menschen dort die Flucht ergreifen. Bis Oktober diesen Jahres stellten rund eine Million Menschen einen Asylantrag in der EU, die meisten sind aus Syrien, Afghanistan und dem Irak geflohen.

Wie können wir helfen?

Thomas Dworzak, Magnum-Fotograf aus Deutschland, arbeitet seit 20 Jahren in solchen Kriegs- und Krisengebieten. Er war Anfang der 1990er vor Ort als der Krieg im damaligen Jugoslawien begann, fotografierte später in Tschetschenien, in Georgien, aber auch im Irak und in Afghanistan.

Im Herbst 2015 findet er sich auf der Balkanroute wieder, inmitten Hunderttausender Flüchtlinge, die versuchen, nach Nord- und Westeuropa zu gelangen. Dworzak frustriert, was er sieht: Er und die Fotografen um ihn herum, machen alle das Gleiche: Sie fotografieren das Leid. Gleiche Bilder, gleiche Geschichten - aber all das bewirkt nur wenig. "Ich hatte das Gefühl, nicht mehr viel beitragen zu können mit meinen Bildern". Also fasst er einen Entschluss. "Ich beobachtete, dass die Flüchtlinge unheimlich viele Fragen hatten. Wie stelle ich einen Asylantrag in Belgien? Was für ein Gesundheitssystem gibt es dort? Sie waren an ganz praktischen Sachen interessiert."

Europa leichter zugänglich machen

Er wusste, wie die Flüchtlinge über Apps und Facebook schnell und unkompliziert an praktische Informationen gelangen konnten und beschloss einen Schritt weiter zu gehen: Er entwickelt eine Einführung für ein Leben in Europa. Ein Buch, das ganz praktische Informationen und Tipps enthält, aber auch die Geschichte Europas und der EU erzählt. Auch die politischen Europa-Debatten, die ihre Zukunft als Migranten mitgestalten würden, wollte er thematisieren. Mit Texten und Beiträgen von Journalisten und Schriftstellern sowie mit persönlichen Berichten einzelner Europäer. 

Dank der engagierten Arbeit vieler Mitwirkender konnte das Buch "Europa. An Illustrated Introduction to Europe for Migrants and Refugees" im November 2016 erscheinen - nach nicht mal einem Jahr Arbeit. Dazu trugen "Al-liquindoi" bei, die das Buch verlegt haben, der Arab Fund of Arts and Culture (AFAC), die italienische Kulturorganisation "On the Move", der UNHCR, die Allianzstiftung und nicht zuletzt die Fotoagentur "Magnum Photos". Ohne letztere wäre das Buch, das in Englisch, Französisch, Farsi und Arabisch verfasst ist, bei weitem nicht das, was es ist. Die weltberühmte Agentur öffnete für das Vorhaben ihr riesiges Archiv historischer und aktueller Fotografien.

Von ärgster Feindschaft zur friedlichen Staatengenmeinschaft

Die überwiegend schwarz-weißen Fotografien zeigen das Deutschland der Nachkriegszeit, westliche Lebensformen, die Zerstörung, Flucht und Vertreibung in den Balkanstaaten der 1990er Jahre und vieles mehr. "Wenn man die Bilder ohne Unterschriften sehen würde, wüsste man gar nicht, um welches Krisengebiet es sich handelt. Das war mir sehr wichtig", erzählt die New Yorker Journalistin Alia Malek, die das Buch redaktionell betreut und die Dramaturgie mitentwickelt hat.

Die Idee war: Den Flüchtlingen zeigen, dass Europa nicht immer das war, was es heute als wohlhabender und industrialisierter Kontinent ist. Und dass man auch hier Kriege und militärische Konflikte erlebt hat, ehe sich die Staaten friedlich in der Europäischen Union zusammenfanden. "Und indem wir diese Geschichte erzählen, schenken wir den Flüchtlingen Hoffnung auf Versöhnung", fügt Alia Malek hinzu.  

Praktische Hinweise für Flüchtlinge

Neben all den geschichtlichen Erläuterungen kommen im Buch auch ganz praktische Dinge zur Sprache. So begab sich Thomas Dworzak auf eine sehr spezielle Fotoreise und knipste Hinweisschilder, Fleischtheken, Fahrkartenautomaten und Mülleimer. Vermeintlich banale Dinge, die in den Herkunftsländern der Flüchtlinge völlig anders aussehen können. Mit den Fotos will Dworzak den Neuankömmlingen eine visuelle Orientierungshilfe bieten. Über Traditionen, typische Speisen und Getränke, Filme und Bücher der Länder Deutschland, Österreich, Belgien, Spanien, Frankreich, Griechenland, Italien, Niederlande, Großbritannien und Schweden - den bei Flüchtlingen beliebtesten EU-Staaten - erfahren die Flüchtlinge und Migranten ebenfalls etwas in dem Buch. Darüber hinaus sind wichtige Beratungsstellen aufgelistet.

"Ich hatte das Gefühl, die Menschen waren sehr glücklich darüber, dass jemand etwas speziell für sie gemacht hat", erklärt Jessica Murray von "Al-liquindoi". Sie koordinierte das Projekt und war von Ende November bis Anfang Dezember diesen Jahres auf Tour quer durch Europa, um die insgesamt 5000 Exemplare kostenlos zu verteilen: an NGOs, in Flüchtlingsunterkünften, an Helfer, die mit Flüchtlingen arbeiten. Eine erfolgreiche Rundreise, denn "die Flüchtlinge waren fasziniert von den vielen Infos in dem Buch. Und auch die Menschen, die sie unterrichten, fanden es toll, auf welch verschiedene Art und Weise man das Buch verwenden kann", erinnert sie sich mit Begeisterung zurück.

Buch für die Völkerverständigung

Die Autoren und Herausgeber des Europa-Buches wollen außerdem den Austausch zwischen den verschiedenen Flüchtlings-Gruppen fördern. Dazu dürften vor allem die persönlichen Erzählungen beitragen, in denen sich Menschen vorstellen, die in Europa leben und arbeiten: Alteingesessene und Neubürger, Flüchtlinge von heute und der Nachkriegszeit. "Europäer und Flüchtlinge bekommen die Gelegenheit, sich in der gemeinsamen Erfahrung im jeweils anderen wiederzuerkennen", fasst Journalistin Alia Malek ihre Idee zusammen. Wie und ob das funktioniert, ist die Frage.

"Europa. An Illustrated Introduction to Europe for Migrants and Refugees" ist ein gemeinnütziges, nicht profitorientiertes Projekt. Das Buch ist nicht in Buchhandlungen zu erhalten. Die erste Auflage von 5000 Exemplaren wurde kostenlos an NGOs und Flüchtlingsorganisationen verteilt. Wer mit Flüchtlingen und Migranten arbeitet, kann unter folgender Emailadresse Exemplare anfordern: [email protected]