Magisches Kino: Mexiko im Fokus
8. Oktober 2018Das vielleicht erstaunlichste Phänomen des aktuellen mexikanischen Filmwunders ist die scheinbar mühelose Verbindung zwischen Kunst und Kommerz. Filme wie "Roma", "Shape of Water", "Babel" oder "Pans Labyrinth" sind international an den Kinokassen erfolgreich, verzücken aber auch die Kritik. Seit knapp 20 Jahren haben sich Regisseure, Drehbuchautoren und Schauspieler aus dem mittelamerikanischen Land an vorderster Front des Weltkinos etabliert. Sie werden regelmäßig zu den wichtigen Festivals eingeladen, räumen Preise ab, sind aber auch in vielen Ländern der Erde an den Kassen erfolgreich.
Durchbruch mit "Amores Perros"
Im Jahr 2000 begann die noch heute anhaltende filmische Blüte. "Amores Perros", das fulminante Debüt des damals 37-jährigen Regisseurs Alejandro Gonzáles Iñárritu beglückte die internationale Filmwelt. Der Filmhistoriker Roman Mauer schrieb in einem Band über das junge mexikanische Kino, der dem Phänomen vor zehn Jahren nachging, in einem Essay über Inárritus Debüt: "'Amores Perros' bündelt die stilistischen Entwicklungen im Autorenkino der 1990er Jahre zu einer kraftvollen Synergie: den neuen Realismus in den Milieustudien einerseits, das episodische Erzählen paralleler Lebenswelten andererseits - zwei Trends, welche die Künstlichkeit der Postmoderne und die linearen Heldenreisen zurückgedrängt haben."
Auch den heute ebenfalls weltberühmten und Oscar-gekrönten Regiekollegen Alfonso Cuarón und Guillermo del Toro gelang es, den mexikanischen Wurzeln treu zu bleiben und ihren kulturellen Hintergrund auch dann nicht zu verleugnen, wenn sie mit großem Budget in Hollywood drehten. Sie schafften es mit Stars wie Brad Pitt, Cate Blanchett oder George Clooney zu arbeiten, ohne sich damit einem seelenlosen, nur von kommerziellen Zielen geprägten Hollywood-Mittelmaß hinzugeben.
Goldener Löwe 2018 für Alfonso Cuarón
Cuarón, der seine Visitenkarte 2001 mit der wunderbaren Studie über das Erwachsenwerden "Y tu mamá también - Lust for Life" abgegeben hatte, glänzte in den USA mit den Großproduktionen "Children of Men" und "Gravity", konnte sogar für seinen Beitrag zur Harry Potter-Serie ("H.P. and the Prisoner of Azkaban", 2004) eigene Akzente setzen.
Beim Festival in Venedig gewann er dann für seinen sehr persönlichen Film "Roma" (unser Bild oben) den Goldenen Löwen - und später mehrere Oscars. An "Roma", den Cuarón nach Jahren der Arbeit in Hollywood wieder in seiner Heimat gedreht hatte, entzündete sich in der Folge ein Streit. Der Film wurde von "Netflix" aufgekauft, sollte zunächst ausschließlich dort zu sehen sein. Doch dann kam er doch - für kurze Zeit - in die Kinos und räumte bei den Oscars ab.
Guillermo del Toro, der sein mexikanisches Debüt 1993 mit dem phantastisch-mystischen "Cronos" abgeliefert hatte, etablierte sich in Hollywood zunächst mit Schockern wie "Hellboy" oder "Mimic". Wer da schon gedacht hatte, dieser Meister des schaurigen Effekts würde den Verlockungen der Kino-Maschinerie Hollywood erliegen, den überraschte del Toro 2006 mit "Pans Labyrinth". Die düster-surrealistische wie faszinierende Studie über die Nachwehen des spanischen Bürgerkriegs gewann drei Oscars.
Daran knüpfte del Toro vor zwei Jahren nahtlos an: "Shape of Water" verband ebenso geschickt Fantasy und Horror, Melodrama und Historie. Auch dafür gab's Preise in Hülle und Fülle.
Noch zu entdecken: Carlos Reygadas
Eine ganz andere Richtung schlug der Regisseur Carlos Reygadas ein. Wolfgang Martin Hamdorf charakterisiert Reygadas im Band "Die jungen Mexikaner" als "ungewöhnlichen Filmemacher, auch innerhalb eines so ungewöhnlichen Filmlandes wie Mexiko".
Reygadas hat sich mit inzwischen sechs Filmen (zuletzt der in Venedig präsentierte "Nuestro tiempo") den Ruf eines visuell außergewöhnlichen Vertreters seiner Zunft erworben: "Seine ganz eigene Synthese aus Transzendenz und Realismus entsteht in einer gekonnten Mischung aus Natürlichkeit der Laienschauspieler, einer fast metaphorischen Stilisierung und einer exzellenten Beobachtung der Details", so Hamdorf.
Vor 19 Jahren zur Jahrtausendwende war die Filmwelt kaum vorbereitet auf das "Nuevo Cine Mexicano". Zwar hatten einige Werke in den 1990er Jahren bei Festivals für Aufsehen gesorgt und waren landesweit auch an den Kassen erfolgreich, doch das, was dann vom Jahr 2000 an folgen sollte, ist filmhistorisch außerordentlich bemerkenswert. Man muss bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurückblicken, als der aus Spanien kommende Luis Buñuel im mexikanischen Exil mit seinen Filmen für Furore sorgte, um eine vergleichbare internationale Aufmerksamkeit für das Filmland Mexiko zu entdecken.
In Luis Buñuels Fußstapfen
An manches knüpfen Inárritu, Cuarón und del Toro nun an. Auch in ihren Filmen trifft das Publikum auf eine magische Verbindung von hartem Alltags-Realismus und surrealistischen Elementen. Es sind würdige, in ihrem künstlerischen Anspruch aber völlig eigenständige Nachfolger, die ein paar Jahrzehnte nach Buñuels Schaffen im mexikanischen Exil nun in die großen Fußstapfen des gebürtigen Spaniers getreten sind.