Luftabwehr für die Ukraine: Rüstungswettlauf mit Russland
13. Januar 2024Kurz vor Jahreswechsel ließ sich Russlands Präsident Wladimir Putin Produktionszahlen der hochgefahrenen russischen Rüstungsindustrie präsentieren. Der Geschäftsführer des Staatsunternehmens Rostec, Sergej Tschemessow, verkündete, die Firma würde mittlerweile 50-mal mehr Munition für Handfeuerwaffen und die an der ukrainischen Front so berüchtigten Mehrfachraketenwerfer produzieren.
Also jene Artillerie-Granaten, an denen es der Ukraine wiederum so sehr mangelt. Demnach würde Russland mittlerweile auch sieben Mal mehr Panzer produzieren als vor der großangelegten Invasion in der Ukraine vor bald zwei Jahren. Der Auftritt sollte offenbar Stärke im Rüstungswettlauf mit den Unterstützerstaaten der Ukraine unter Führung der USA demonstrieren. Zumal nur wenige Tage später die Ukraine unter drei schweren russischen Luftangriffen mit Raketen und Drohnen zu leiden hatte.
Die ukrainische Luftabwehr schafft es zwar meist, die Hauptstadt Kiew effektiv zu schützen, wo die meisten der hochmodernen westlichen Abwehr-Systeme wie Iris-T SLM aus Deutschland oder die US-gebauten Patriot stehen. In der Großstadt Charkiw im Nordosten des Landes kam es zuletzt aber zu schweren Schäden.
Russland setzt gegen Luftabwehr auf massiven Beschuss
Um den Prozentsatz der Abschüsse zu verringern, greife Russland zu massivem Beschuss, sagt der Militärexperte Gustav Gressel im DW-Interview. "Im Durchschnitt ist die Chance, dass eine Rakete durchkommt, höher, wenn sie während eines massiven Angriffs eingesetzt wird. Die ukrainische Luftabwehr schießt 90 Prozent der Raketen bei kleinen Angriffen ab und nur etwa 70 Prozent bei großen Angriffen", so Gressel von der europäischen Denkfabrik ECFR (European Council on Foreign Relations).
Die Ukraine erwartet von der deutschen Industrie deshalb "bis zum Ende des Winters die vierte Iris-T-Batterie und bis Ende des Jahres vier weitere Systeme", sagt der Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, Yurii Ihnat, gegenüber der DW.
Ukraine schießt russische Aufklärungs-Flugzeuge ab
Mit dem Abschuss einer A-50 und der Beschädigung einer Iljuschin-22, über dem Asowschen Meer, gelang der ukrainischen Flugabwehr Mitte Januar eine Überraschung. Und offenbar eine Antwort auf die massiven Angriffe aus der Luft zum Jahreswechsel. Er danke der "Luftwaffe für den hervorragend geplanten und durchgeführten Einsatz“, schrieb der ukrainische Oberkommandierende Walerij Saluschnyj in seinem Telegram-Kanal und bestätigte den Abschuss.
In Russland wollte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow den Vorgang nach Agentur-Meldungen nicht bestätigen. Militärexperten gehen davon aus, dass es in diesem dritten Kriegsjahr "im Wesentlichen um die Beherrschung des elektromagnetischen Feldes“ gehe, sagte der österreichische Militärexperte Markus Reisner bereits vor Winterbeginn in einem Gespräch mit der DW. Gemeint ist: Die Aufklärung durch Drohnen, Radarflugzeuge und Satelliten.
Zumindest bei der Flugabwehr hat der Rüstungswettlauf aus westlicher Sicht an Fahrt aufgenommen. "Deutschland rüstet auf - die Industrie will mehr Waffen für die Ukraine und die Bundeswehr produzieren", titelte Anfang des Jahres das "Handelsblatt". Deutschlands größte Wirtschaftszeitung bezog sich damit auf die Firmen Rheinmetall, die seit vergangenem August auch Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard an die Ukraine liefert, und den Iris-T-Hersteller Diehl Defence.
Russische Erfolgsmeldungen nur Propaganda?
Bezogen auf Putins Erfolgsmeldungen bei der Rüstungsproduktion sei das Bild zudem sehr gemischt. Es lohne sich "hinter die Propaganda zu schauen und in die Details", sagt der Sicherheitsexperte Nico Lange im Gespräch mit der DW. Russland habe auch viele Schwierigkeiten.
"Die angeblich produzierten Kampfpanzer sind in Wahrheit instandgesetzte und ausgerüstete eingelagerte Kampfpanzer, die aber häufig aufgrund der technologischen Sanktionen und des Nichtvorhandenseins bestimmter Komponenten gar nicht mit modernen Zielvorrichtungen ausgestattet sind, die also nur sehr ungenau oder nicht beim Fahren schießen können", so Lange.
Wie schon bei den Flächenbombardements mit Artillerie-Granaten setzen Russlands Streitkräfte auch bei den Panzern weiterhin auf Masse wie zu Zeiten der Sowjetunion. Bei den hochkomplexen Waffensystemen für Angriffe aus der Luft wie Marschflugkörper sei es Russland aber gelungen, "Sanktionen zu umgehen oder Lösungen zu finden, um zum Beispiel kritische Komponenten über Drittstaaten zu beziehen oder aus Ländern zu bekommen, die die Exportbeschränkungen nicht so genau kontrollieren oder nicht genau einhalten."
Mehr Übernahmegarantien für die Industrie gefordert
Für die Ukraine sei deshalb entscheidend, dass der Nachschub für die teuren und komplexen sogenannten Lenkraketen für Patriot und Iris-T gesichert ist, sagt Luftwaffen-Sprecher Ihnat. Hier bewege sich mittlerweile sehr viel, sagt Sicherheitsexperte Nico Lange.
Nicht zuletzt, weil Hersteller der komplexen Flugabwehr-Batterien wie Diehl Defence mittlerweile Übernahmegarantien der deutschen Regierung erhalten hätten. Laut der Anfang Januar aktualisierten Liste der versprochenen und gelieferten Rüstungsgüter des deutschen Verteidigungsministerium soll die Ukraine mittlerweile neun der so dringend angeforderten Flugabwehr-Batterien Iris-T SLM erhalten.
Lange fordert mehr davon. Die Industrie produziere, wenn sie Planungssicherheit habe und habe da auch den "Schalter" umgelegt. In Deutschland habe seit dem Beginn der russischen Großinvasion am 24. Februar 2022 lange das "Verständnis" dafür gefehlt, "dass ein langer Krieg am Ende über eine industrielle Basis entschieden werden könnte". Das heißt, langfristig gewinne den Krieg, wer über mehr und vor allem bessere Waffen verfüge.
Vor allem in Deutschland habe die Politik zu lange mit einem schnellen Ende des Krieges, auch durch die Sanktionspolitik gehofft, so Lange. Zudem dauere es eben Zeit, um Rüstungsproduktion hochzufahren. So sei im Rüstungswettlauf mit Russland das Bild der Lieferungen von Unterstützernationen der Ukraine wie Deutschland eher grau als schwarz oder weiß.
Große Expansion der Firma Diehl Defence
Das zeigt anschaulich das Beispiel der mittlerweile stark expandierenden Firma Diehl Defence und die Produktion der Iris-T-Flugabwehr. Im Dezember hat das Unternehmen aus der kleinen Stadt Überlingen im Bundesland Baden-Württemberg gleich eine ganze Fabrik zusätzlich aufkaufen können. Der Südwesten Deutschlands ist bekannt für hochspezialisierte Maschinenbaufirmen und die mittelständische Metallindustrie.
Diehl konnte im vergangenen Dezember eine Firma für die Herstellung von Präzisionsteilen dazukaufen. Nachdem das Unternehmen Allweier in Insolvenz gegangen war, übernahm Diehl neben 160 hochqualifizierten Beschäftigten auch den Maschinenpark.
"Diehl Defence erweitert mit der Übernahme seine Fertigungskapazität und eröffnet eine neue Quelle für die Zulieferung zur bestehenden Produktpalette", schreibt das Unternehmen in einer Mitteilung. Es sind nicht irgendwelche Teile, sondern unter anderem Komponenten für "Lenkflugkörper" – also die Flugabwehr-Raketen des Iris-T-Systems, die in der Ukraine Menschenleben retten.
Wende für die Ukraine 2025?
"Russland ist auch aufgrund des autoritären Systems in der Lage, die Industrie für den eigenen Munitions-Nachschub schnell umzustellen", sagt Nico Lange. "Wir haben Entscheidungen sehr spät getroffen und bei uns gehen viele Dinge eben auch langsam."
Der Ukraine würden "wegen der industriellen Vorläufe und der späten Entscheidungen" viele von Kiew erbetene Rüstungsgüter fehlen. Doch die Expansionen der Industrie in den Unterstützernationen der Ukraine könne dazu führen, "dass zum Beispiel bei Munition ab Ende 2024 oder ab 2025 die Situation deutlich besser ist."
Dieser Beitrag wurde am 15. Januar 2024 aktualisiert nachdem die Ukraine den erfolgreichen Beschuss von zwei russischen Aufklärungsflugzeugen gemeldet hatte.